Als auch die Visper das Lötschental unterjochten
Im 14. Jahrhundert lässt sich beobachten, wie die Gemeinde Visp, Communitas Vespia, allmählich selbstständig wurde. Wie andere Gemeinden im Oberwallis nahm sie politisch Gestalt an und entwickelte sich allmählich zur Burgerschaft. Visp konnte sich wie die anderen Gemeinden im Landrat an der Regierung beteiligen. Dieser war das «Parlament» des damaligen Wallis, die höchste Gewalt des Bundes der Zenden. Die Boten der Zenden stimmten so, wie die Gemeinden sie instruiert hatten. Zwischen Bischof, Adel und Landleuten – den Gemeinden – begannen die Grenzen der Gewalt zu fliessen; es kam zu unterschiedlichen Allianzen. Zuweilen freuten sich die Gemeinden als lachende Dritte über den immer wieder aufflammenden Kampf zwischen Bischof und Adel. Diese Entwicklungen vollzogen sich vor dem Hintergrund teilweise dramatischer Ereignisse auf Walliser Ebene. Nach wie vor herrschte der Bischof als Landesherr. Die Regentschaft des autoritären und savoyenfreundlichen Bischofs Witschard Tavel gefährdete die relative Unabhängigkeit der Gemeinden unter der Leitung des niederen Adels. Doch das Rad der Zeit liess sich nicht zurückdrehen. Der Bischof legte sich mit den aufstrebenden Gemeinden an, die sich nicht beugen wollten. Er geriet ausserdem in kriegerische Auseinandersetzungen mit den Freiherren von Turn, deren Burg in Niedergesteln stand. Zudem begab sich der Bischof in die Abhängigkeit von Savoyen, sodass das bischöfliche Wallis in den Herrschaftsbereich des Grafen von Savoyen zu geraten drohte. 1355 schlossen die Gemeinden Leuk, Raron, Visp, Naters und von Naters aufwärts bis zur Massabrücke ein Verteidigungsbündnis. Für die Gemeinden war es immer noch besser, unter einem bischöflichen Landesherrn zu leben, der mit beschränkter Machtfülle ausgestattet war, als unter dem Regime eines fremden Herrn aus Savoyen, der über eine straff geführte Beamtenschaft verfügte. Peter II. Werra gilt als treibende Kraft hinter dem Schutzbündnis, das am 24. März 1360 in Visp zwischen Anton de Compey, dem bischöflichen Meier, und ungefähr 30 Männern aus Gemeinde und Pfarrei Visp geschlossen wurde, um eine Front gegen Savoyen zu bilden. Als einer der «sindici communitatum terre Vallesii» war Werra am 11. März 1361 an der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Amadeus VI. von Savoyen beteiligt.
Eine Serie von Schreckensereignissen begann 1365 mit der Ermordung der Gräfin Isabella de Biandrate und ihres Sohns Anton auf der Rottenbrücke von Naters; Isabella soll gegen den Bischof und für die von Turn gewesen sein. Zehn Jahre später, 1375, liess Anton von Turn Bischof Tavel auf Schloss Seta über die Mauer werfen. Der Bischofsmord wurde den Herren von Turn zum Verhängnis: Die Zenden vertrieben sie gewaltsam und beschlagnahmten ihren Besitz; die Eroberung der Burg in Niedergesteln sollte dann allerdings sieben Jahre beanspruchen. Die Gommer, Briger, Visper, Rarner und Leuker drangen nun auch ins Lötschental ein, das zum Untertanenland der von Turn gehörte, und nahmen es in Besitz. Die Lötscher empfingen sie als Befreier. Sie hatten nicht damit gerechnet, weiterhin Untertanen zu bleiben; ihre neuen Herren waren nun die fünf oberen Zenden, zu denen auch Visp gehörte. Fortan stellte der Zenden Visp im Turnus mit den anderen den Kastlan, den Landvogt für das Gebiet. Die Talbewohner von Lötschen sollten sich erst ab 1527 nach und nach von den Zehntabgaben loskaufen.
1378, unter dem neuen Bischof Eduard von Savoyen-Achaia, kam es zu einem Aufruhr der Gemeinden des oberen Wallis gegen die bischöflichen Beamten und die Grafen de Compey-Biandrate, die verhassten Herren und Meier von Visp. Der Adelige Johannes de Compey, Sohn von Gräfin Isabella de Biandrate und Ritter François de Compey, war damals Meier von Visp. Nicht umsonst entlud sich die Volkswut gegen ihn und seine Besatzungen; mit ihm hatten die Landleute noch abzurechnen. Die Aufständischen, die seinen Turm in Visp eroberten und besetzten, waren zugleich seine Untertanen, die Visper, die Saaser, die Briger. Diese Familie hatte durch Einheirat die Nachfolge der Grafen de Biandrate im Oberwallis angetreten. Sie soll ständig Schwierigkeiten mit den Landleuten gehabt haben. Die de Compey waren denn auch die letzte bedeutende Adelsfamilie «savoyischen Ursprungs» im Oberwallis. Sie waren Parteigänger Savoyens und weil sie in Visp residierten, hätten sie den Gemeinden gefährlich werden können. Der einheimische Adel und mit ihm Johannes III. Werra lehnte sich nicht gegen den Bischof auf, zu dem er in jenen Jahren einigermassen gute Beziehungen unterhielt. Johannes war der langjährige «syndicus» und «procurator» der Gemeinde Visp. Ein offener gemeinsamer Aufstand von Landvolk und einheimischem Adel gegen den Bischof im Jahr 1384 veranlasste den Savoyer Amadeus VII., eine kriegerische Strafexpedition gegen Sitten zu unternehmen. Die Zenden unterlagen. Erst vier Jahre später, am «Mannenmittwoch» (1388) sollten die deutsch sprechenden Gemeinden in Visp siegen. Es dürfte Johannes III. Werra gewesen sein, der mit den Vispern in die Schlacht zog.
In der Mitte des 14. Jahrhunderts erhielt Visp eine Suste, die Pflanzetta. Initiiert hatten diesen Bau der einheimische adelige Johannes de Platea und lombardische Handelsleute. Die Pflanzetta wurde ein bedeutender Warenumschlagplatz im Oberwallis und Raststätte für Handelsreisende, bis die Alpenpässe der Vispertäler gegenüber dem Simplon an Bedeutung verloren.
Während des politisch turbulenten Jahrhunderts hausten in einer Felsennische unter der Pfarrkirche Einsiedlerinnen und Einsiedler – meist Laien –, die sich neben dem Gebet auch in der Bildung engagierten. Ende 1347 wurde das Rhonetal von der ersten grossen Pestpandemie, dem «Schwarzen Tod» erreicht; die Seuche sollte in den folgenden Jahrhunderten auch in Visp immer wieder Opfer fordern.
Inhalte des Kapitels 5, 1301–1387
Communitas Vespia: die Gemeinde Visp wird selbstständig
Der Zenden Visp, desenus Vespiae, 1384 erstmals erwähnt
Morast und streunende Hunde als Gründe für die Pest im Wallis
Visper Kleriker wirkten in der Kirche und als Notare
Die Suste Pflanzetta, ein bedeutender Warenumschlagplatz
Peter II. Werra verschrieb die Gründung der Pflanzetta
Die Grafen von Niedergesteln im Dienst Savoyens
So blieben die «befreiten» Lötscher weiterhin Untertanen
Abrechnung mit dem Visper Adel nach Wahl von savoyischem Bischof
Intensives klösterliches Leben, auf Einzelpersonen beschränkt
Johannes III. Werra, Anführer der Visper in der Schlacht
Heirat mit Visperin begründete Visper Zweig der Urner Familie von Silenen
Am Mittwoch vor Weihnachten 1388, am «Mannenmittwoch», retteten die Visper, tatkräftig unterstützt von Landleuten, das Oberwallis für immer vor den Savoyern. Mit Überraschungstaktik, besserer Geländekenntnis und dank eiskaltem Wetter konnten die Einheimischen den in jeder Beziehung hoch überlegenen Eindringling auf einer schwer zu begehenden, unebenen und völlig vereisten Talebene besiegen und in die Flucht schlagen.
Lange vorher hatten die Savoyer den westlichen Teil des Landes am Rotten unter ihre Fittiche gebracht. Sie hatten wiederholt versucht, auch den oberen Teil des Wallis zu erobern, um sich damit ebenfalls den Simplonpass freizuhalten, sei es für die Kriegsführung oder den Handelsverkehr.
Der völlig überraschende Sieg in der Talebene nordwestlich der Siedlung Visp gegen einen zahlenmässig und hinsichtlich Ausrüstung übermächtigen Gegner brach endgültig die Macht Savoyens im Oberwallis. Die Schlacht von Visp sollte eine bedeutende geschichtliche Wende in der staatsrechtlichen Entwicklung der alten Landschaft Wallis einleiten; sie bahnte «die Freiheit und Unabhängigkeit des gesamten Walliserlandes» an und stellte diese dauernd sicher, wie Dionys Imesch, damals Präsident des Geschichtsforschenden Vereins Oberwallis, 1938 urteilte.
Dieser Sieg einer wenig kriegserfahrenen, aber entschlossenen, freiheitsliebenden Mannschaft, der es gelang, den Mythos der Unbesiegbarkeit eines überheblichen Ritterhaufens zu zerstören, war entscheidend für die Geschicke des Landes, ein Markstein in der Walliser Geschichte. Staatsarchivar Bernhard Truffer bezeichnete die Visper Schlacht als «das letzte Glied in einer langen Kette kriegerischer Auseinandersetzungen im Ringen um die Herrschaft über das bischöfliche Wallis im ausgehenden 14. Jahrhundert».
Wie kam es zur Schlacht?
Vorausgegangen waren der Aufruhr der Oberwalliser Gemeinden gegen die bischöflichen Beamten und die Grafen de Compey-Biandrate (1378) nach dem Bischofsmord von Seta (1375), der offene gemeinsame Aufstand von Landvolk und einheimischem Adel gegen Bischof Eduard von Savoyen (1384), die darauffolgende kriegerische Strafexpedition des Savoyers Amadeus VII. gegen Sitten und die Niederlage der Zenden. [Siehe auch Kp. 05.09 «Abrechnung mit dem Visper Adel nach Wahl von savoyischem Bischof»]
Der Marsch auf Visp begann im Herbst
1384 hatte Graf Amadeus VII. von Savoyen, der schon zuvor über das Unterwallis unterhalb der Morse gebot, beschlossen, das Land von dort aufwärts bis Leuk zu erobern und die Leute zu zwingen, ihn als Herrn anzuerkennen und ihm zu schwören. Zudem setzte er 1386 den strengen Ritter Rudolf, Sohn des gleichnamigen Grafen von Greyerz, darüber als Landvogt ein und beschloss gleichzeitig, das restliche Oberwallis mit den widerspenstigen Gemeinden zu unterwerfen. Von Greyerz war mit dem berüchtigten Anton von Turn und mit dem Sittener Bischof Humbert von Billens verwandt. Die vier oberen Zenden weigerten sich, Humbert als Bischof und Landesherrn anzuerkennen, weil er ein Lehensmann des Grafen von Savoyen war, und wandten sich deshalb an den Papst.
Savoyens Statthalter Rudolf IV. von Greyerz aber war entschlossen, den Widerstand der vier oberen Zenden mit Waffengewalt zu brechen. Er sammelte im Spätherbst 1388 in Sitten zahlreiche Streitkräfte aus Saanen (400 Mann) und Greyerz, aus Freiburg und dem Waadtland, aus der Dauphiné und aus Savoyen. Sie zogen das Land aufwärts.