Am neuen Industrieort formierten sich politische Parteien
Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert zeichnete sich in Visp ab, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung dringend notwendig war. Im Unterschied zu den übrigen grösseren Orten in der Talebene des Rottens, die sich über industrielle Betriebe kleineren Ausmasses freuten, begann sich in Visp mit der Lonza ein bedeutend grösserer Arbeitgeber breitzumachen; das bedeutete Arbeit, Geld, Steuern und Fortschritt. Als das Unternehmen im Gurtengrund seine ersten Fabrikhallen aufstellte, drängte sich eine zentrale Wasserversorgung mit Hydrantenanlage auf. Aber erst 1911 wurde das Trinkwasserprojekt mit Kosten von 120 000 Franken genehmigt. Gleichzeitig fasste man im Baltschiedertal zusätzliche Quellen. Die Hydrantenanlage erlebte bei einem Grossbrand an der Überbielstrasse regelrecht ihre Feuertaufe.
Das Wasser aus dem Saastal ermöglichte die Produktion des Stroms, der vor allem für den Betrieb der Fabrikanlagen unerlässlich war. Als aber die Lonza der Gemeinde die Führung des Stromverteilnetzes anbot, sagten die Visper Gemeinderäte nein. Die Behörden waren noch nicht alle vom Fortschrittsgedanken überzeugt. Auch in der Gemeinde Visp beherrschten die Konservativen das Geschehen, die wie im übrigen Oberwallis praktisch das ganze 19. Jahrhundert hindurch regiert hatten. Stützen der konservativen Macht waren die führenden Familien sowie der politische und bürgerliche Katholizismus, der den Liberalismus bekämpfte und dafür auch beim Klerus Unterstützung fand.
Eine Neuerung im politischen System bewirkte in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dass fortan auch kleinere lokale Parteien zum Zug kamen. Nach der kantonalen Verfassung von 1907 war für die Gemeinderats- und Burgerratswahlen das Mehrheitssystem (Majorz) massgebend, womit der Mehrheit besser gedient war. Wenn allerdings 20 Prozent, das heisst ein Fünftel der Stimmberechtigten das Verhältniswahlsystem (Proporz) verlangten, kam dieses zur Anwendung. Auf die Gemeinderatswahlen von 1908 hin war mit dem Inkrafttreten des Wahlgesetzes vom 13. Mai 1908 also die Wahl nach dem gerechteren Verhältniswahlrecht möglich – elf Jahre bevor dieses 1919 erstmals bei den Wahlen ins eidgenössische Parlament zur Anwendung gelangte.
In Visp errangen als erste Oppositionspartei die «Fortschrittlichen» vereinzelte Sitze im Gemeinderat. Ihre Basis waren jene, die das Bestehende als rückständig wahrnahmen, und Angehörige der reformierten Konfession, die bei den Konservativen ausgeschlossen waren, weil diese im Namen ausdrücklich das Wort «katholisch» verwendeten.
Die Sozialisten, deren Hochburg wegen Bahn und Zoll Brig war, konnten nach einem einmaligen Erfolg im Jahr 1924 erst wieder in den Siebzigerjahren im Visper Gemeinderat vorübergehend Einzug halten.
Ab 1936 benannten sich die Fortschrittlichen in «Demokraten» um und erarbeiteten sich mehr und mehr Terrain, bis sie 1945 in einer sensationellen Wahl die Katholisch-Konservativen für vier Wahlperioden in die Minderheit versetzten.
Was Adolf Fux und seinen Getreuen nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, erreichten die zur Volkspartei vereinten Katholisch-Konservativen und Christlichsozialen 1960, also 16 Jahre später, mit Hans Wyer: Sie errangen die Mehrheit und das Gemeindepräsidium, das fortan die Christlichsozialen (die «Gelben») und anschliessend die Katholisch-Konservativen (die «Schwarzen) behalten sollten. Die Katholisch-Konservativen und die Christlichsozialen gerieten unter sich in ein Oppositionsverhältnis; so gewann Peter Bloetzer 1976 das legendäre Duell um die Präsidentschaft gegen Ignaz Mengis.
Als 1971 endlich das Frauenstimmrecht kam, stellten die Demokraten die erste Frau im Gemeinderat und 1992 wurde Ruth Kalbermatten erste Gemeindepräsidentin: Die CVP-Frau übernahm das Amt nach mehr als drei Jahrzehnten von den «Gelben». Fortan verblieben den Demokraten, später unter der Bezeichnung FDP, ab 1976 den Sozialisten und viel später, 2012, der SVP nur noch vereinzelte Sitze im Visper Gemeinderat.