Kapitel Nr.
Kapitel 16
Zeithorizont
1876–1906

Eisenbahnen brachten Höhen und Tiefen für Visper Tourismus

Die Korrektion der Flussläufe von Vispa und Rotten auf Visper Boden in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts war unumgängliche Voraussetzung für die künftige wirtschaftliche Entwicklung von Visp. Sie ermöglichte das Anlegen des Trassees für die von Sitten her eintreffende Eisenbahn, die ihrerseits Voraussetzung für das Ansiedeln von Unternehmen war und der räumlichen Isolation des Oberwallis während zwei Dritteln des Jahres ein Ende bereitete. Diese Infrastrukturprojekte waren entscheidend für eine bessere Zukunft des ganzen Tals. So traf 1876 die Eisenbahn von Sitten und Leuk her in Visp ein. Der Bahnanschluss, der 1878 nach Brig weitergeführt wurde, eröffnete für Visp neue Perspektiven und brachte bedeutenden wirtschaftlichen Fortschritt: Von Lausanne her trafen erheblich mehr Touristen ein, die zumeist gut betucht waren. Sie kamen vor allem aus England, aber auch aus Deutschland und Frankreich. Ihr Ziel war fast durchwegs Zermatt mit dem faszinierenden Matterhorn, wo der Tourismus nun eine regelrechte Blüte erreichte. Dies lässt sich unter anderem daran ermessen, dass 1880 bei der Gemeindeverwaltung in Visp nicht weniger als 144 Pferdehalter und Träger eingeschrieben waren. Diese beförderten die in Visp eintreffenden Gäste und deren Gepäck mit Maultieren und Sänften auf dem noch schlecht ausgebauten Weg zu den Kurorten zuhinterst im Matter- und Saasertal. Das Kutschergewerbe florierte. Auch mit Beherbergungen war einiges zu verdienen; die Gäste rasteten und übernachteten in den lokalen Hotels und Herbergen von Visp, die in dieser Zeit gebaut wurden. Übernachtungsmöglichkeiten gab es im «La Poste», im «Soleil» und im «Mont Cervin».

Visper Hotel-Pioniere eröffneten Betriebe in Zermatt und Saas-Fee. Prominentestes Beispiel ist der polyvalente Visper Politiker Joseph Anton Clemenz, der 1852 – sogar noch vor dem legendären Hotelier Seiler – in Zermatt sein Gästehaus von beachtlicher Grösse eröffnete: das erste, welches die Bezeichnung Hotel verdiente. Das verschwägerte Visper Duo Severin Lagger und Franz Stampfer belebte die Hotelbranche in Saas-Fee, nachdem es in Visp bereits das La Poste betrieben hatte.

Als dann aber 1891 die Visp-Zermatt-Bahn direkt an den Fuss des Matterhorns führte, wurde Visp zum reinen Umsteigebahnhof reduziert; ein grosser Teil des bisherigen Visper Tourismus verschob sich in den Süden. Nach nur 15 Jahren war der Boom zu Ende; auf den ersten vorübergehenden touristischen Höhepunkt dank der Ankunft der Bahn folgte eine Durststrecke. Es drohte ein Rückfall in die seit Jahrhunderten praktizierte Selbstversorgung, denn die Entwicklung von der landwirtschaftlichen zur industriellen Gemeinde setzte in Visp sehr spät ein. Erst mit dem Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert begann sich der Ort allmählich aus der Enge der mittelalterlichen Vorstellung von Wirtschaft zu befreien.

Nach dem Einbruch des Tourismus zeigte sich die Bedeutung der Bahn für die kommende industrielle Entwicklung von Visp. Sie war wie vorher die Rottenkorrektion Voraussetzung für die im 20. Jahrhundert einsetzende Industrialisierungsphase. Es bestand ausgeprägter Bedarf nach Arbeitsplätzen, deren Entstehung noch bis zur Ankunft der Lonza auf sich warten liess. Freilich mögen heute die Industrie, der Handel und das Gewerbe jener Zeit klein und unbedeutend erscheinen. Dennoch bedeuteten diese Entwicklungen für das Wallis den Aufbruch in eine neue Epoche. Sie hatten einen bisher nie dagewesenen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsstruktur der Region zur Folge. Die bäuerliche, jahrhundertealte Selbstversorgungswirtschaft wurde direkt durch das Fabrikzeitalter abgelöst.

Von den 1890er-Jahren an erlebte die Walliser Wirtschaft eine Beschleunigung. Es entstanden neue, kleine Produktionsbetriebe, Fabriken in der Talebene, 1888 eine Konservenfabrik in Saxon, eine Tuchfabrik in Brämis, eine Likörfabrik in Martigny, eine Dynamitfabrik in Gamsen, nachdem unter anderem schon 1858 eine grössere Sägerei in Brig, eine Bierbrauerei in Sitten, eine Tabakfabrik in Monthey gestartet hatten. Einzig in Visp tat sich diesbezüglich vorläufig noch nichts: Nach wie vor dominierte die bäuerliche Selbstversorgung die Lebensbedingungen der meisten Familien, 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung. 

Das politische Leben im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war im Wallis gekennzeichnet von einer – forcierten – bescheidenen Öffnung der seit Jahrzehnten herrschenden Klasse gegenüber Aufsteigern, die nun ebenfalls einen Platz an der Sonne für sich beanspruchten. Für alle übrigen blieben die Spielregeln unverändert; es ging ihnen nicht so sehr um die Regierung des Landes mit einer wirklichen politischen Verantwortung, sondern um eine Verbesserung ihres Alltags.