Kapitel Nr.
Kapitel 15
Zeithorizont
1849–1875

Jahrhundert-Erdbeben, Hochwasser, Korrektion von Rotten und Vispa

Als man zuversichtlich dabei war, die neue Gemeindeorganisation aufzubauen, wandte sich die Natur erneut gegen die Weiterentwicklung des Ortes und tat dies so heftig wie noch nie zuvor: Ein Erdbeben der Stärke 6.4 warf Visp 1855 wieder schwer zurück. Praktisch sämtliche Gebäude wurden unbewohnbar. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten zu beklagen. Dieses Erdbeben war nach jenem in Basel von 1356 das zweitstärkste, das in der Schweiz je registriert wurde. Zelte in den östlich gelegenen Baumgärten dienten für längere Zeit als Notunterkunft. Auch die beiden Kirchen wurden schwer beschädigt. Besonders schmerzlich war für viele Visper, dass der 200 Jahre alte, in unseren Gefilden einmalige Turm der St. Martinskirche, Wahrzeichen der Ortschaft, dem Beben zum Opfer gefallen war. Die Visper aber bauten ihr Dorf wieder auf, der Kirchturm wurde 1856 provisorisch mit einem Satteldach versehen – für mehr als 40 Jahre. Der Rippenhelm wurde nicht mehr aufgebaut.

1860, fünf Jahre nach dem Erdbeben, wurde vieles wieder zerstört, als die Vispa einmal mehr über die Ufer trat und Schäden in einem noch nie gesehenen Ausmass anrichtete. Visp stellt einen Sonderfall dar, denn hier kommen die Wasser vieler Gletscher in den beiden grössten Walliser Flüssen zusammen. Entsprechend gross war früher die Überschwemmungsgefahr. Die Ausdehnung der Siedlung ins Tal hinaus war praktisch unmöglich; die Bevölkerungszahl entwickelte sich kaum. Erleichterung brachte erst die Korrektion der Flussläufe in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. In Sitten war man endlich erwacht, nicht zuletzt dank Kantonsingenieur Venetz: 1863 begann die erste Korrektion des Rottens, die mit bedeutenden Bundes- und Kantonsbeiträgen finanziert wurde. Die Notwendigkeit dieser Massnahme wurde endgültig unter Beweis gestellt, als 1868 eines der schlimmsten Hochwasser auftrat. Die Korrektion war der entscheidende Schritt in eine bessere Zukunft des ganzen Tals nach unzähligen verheerenden Überschwemmungen. Auch die Vispa wurde endlich «diszipliniert», indem man ihr Bett vom Schwarzen Graben an den heutigen Ort verlegte. Wehreye, Bockbart, Schwarzer Graben, Grosseye und Pomona liessen sich so endlich mittels Kanälen trockenlegen und sukzessive in Kulturland umwandeln. Unter anderem wurde auch der Bau des Bahntrassees ermöglicht, damit die Eisenbahn von Westen her das Tal herauf bis Visp und Brig geführt werden konnte.

Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts brachte Visp in der Person des Visper Burgers Joseph Anton Clemenz einen Politiker hervor, der während Jahrzehnten dem Wallis seinen Stempel aufdrückte, vor und nach der Entstehung des eidgenössischen Bundesstaats. Clemenz war mehrmals Burgermeister von Visp und dann auch dessen Gemeindepräsident. Mehr als 30 Jahre lang sass er im kantonalen Parlament und war auch neun Jahre hintereinander Präsident des Grossen Rats. Zweimal gehörte er als Staatsrat der Kantonsregierung an, 1843 am Anfang seiner Karriere und 1871 gegen Ende seines Lebens. Er war der allererste Walliser Nationalrat des neuen Bundesstaats und gleich dreimal in der kleinen Kammer, im Ständerat – dies zu verschiedenen Zeiten. Zudem war Clemenz während Jahrzehnten Zendenrichter und dann Untersuchungsrichter des Bezirks Visp. Später gehörte er dem Appellationsgericht an, vergleichbar mit dem heutigen Kantonsgericht. Er gehörte zu den weitsichtigen, fortschrittlich denkenden Leuten im Wallis. Clemenz war ausserordentlich erfolgreich, auch als Hotelier. Als er starb, 1872, waren die Oberwalliser wohl erst auf dem Papier Schweizer: Bei der Volksabstimmung über die umfassende Revision der Bundesverfassung gab es in der Gemeinde Visp nur ein einziges Ja, im Bezirk Visp nur gerade vier und im Oberwallis standen lediglich dreizehn Ja-Stimmen fast 3 000 Nein gegenüber. Die führenden Aristokraten hatten zusammen mit dem Klerus, der seine Interessen mit der neuen Verfassung alles andere als vertreten sah, ihren Einfluss rigide geltend gemacht und das Stimmvolk mit Erfolg für ihre Eigeninteressen einzuspannen vermocht. 

Die Übergabe der lokalen politischen Macht von der Burgerschaft an die neue Munizipalgemeinde nach der Einführung des Bundesstaats zog sich hin. Die bisherigen Gemeindevorsteher hatten Mühe, sich von den über Jahrhunderte erworbenen Vorrechten zu trennen. Obwohl sich der neue Gemeinderat während dem ersten halben Jahrhundert ebenfalls aus lauter Visper Burgern zusammensetzte, kam es immer wieder zu teils heftigen Auseinandersetzungen. Die Differenzen gipfelten im ersten Steuerstreit. Die neue Munizipalgemeinde hatte die Pflicht und die Kompetenz, alljährlich Steuern zu erheben. Diesbezüglich fiel die Burgerschaft am meisten ins Gewicht; erstmals in ihrer jahrhundertealten Geschichte musste sie zahlen statt einzukassieren. Als eben diese erste Steuerrechnung doppelt so hoch ausfiel wie die Einnahmen der Burgerschaft, schlug das dem Fass den Boden aus. Es folgte ein Rekurs an den Staatsrat und der Konflikt zog sich über Jahre hin. Schliesslich einigten sich die Visper unter sich; bei gutem Willen wäre dies bedeutend früher möglich gewesen.