Kapitel Nr.
Kapitel 09
Zeithorizont
1605–1700

Neue St. Martinskirche mit majestätischem Rippenhelm

Der initiative, baufreudige und grosszügige Pfarrer Mathias Belwalder, der von 1648 bis 1662 Pfarrer von Visp war, liess um die Mitte des Jahrhunderts die neue St. Martinskirche bauen; der Neubau war im Renaissance-Stil gehalten. Am westlichen Felsabgrund versah Belwalder die Kirche mit einem hohen, kunstreichen Kirchturm, der einen Rippenhelm trug – die «Laterne». Noch vor dieser markanten Veränderung des Ortsbildes hatte Matthäus Merian 1642 einen Kupferstich mit der ersten Darstellung von Visp angefertigt. Es handelt sich um eine «Luftaufnahme», also um eines der zahlreichen Städtebilder des Baslers, der in halb Europa studiert hatte. Kenner der Materie loben die Präzision von Merians Darstellungen. Pfarrer Belwalder, der sich auch finanziell erheblich am Bau der neuen Kirche beteiligte, vermachte sein Vermögen testamentarisch der «Kirchenfabrik» von Visp und legte so 1662 die Grundlage für ein eigenes «Fabrikvermögen» der Kirche. Noch heute ist die «Kirchenfabrik» die Bezeichnung für alles, was mit dem Bau von kirchlichen Gebäuden zu tun hat.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts setzte sich im Wallis die Zendendemokratie durch. Die Gemeinden der sieben Zenden waren alleinige Souveräne der Landschaft, nachdem sie zuerst den Adel, dann die Geistlichkeit und schliesslich den Landesherrn selbst aus dem Regiment verdrängt hatten. Der Fürstbischof hatte immer mehr von seinen weltlichen Rechten verloren. Nach langjährigen Auseinandersetzungen erlangten die Zenden die höchste Gewalt; 1634 rangen sie dem Bischof den Verzicht auf die Landeshoheit ab und liessen ihm nicht viel mehr als den Titel übrig. Als Ehrenrecht wurde ihm der Vorsitz im Landrat zugestanden – neben dem nun faktisch regierenden Landeshauptmann. Der Rat konnte nur über jene Dinge abstimmen, für welche die Abgeordneten von den Zenden mandatiert waren. Während des 17. Jahrhunderts stieg die Bedeutung des Zendenrats, in dem jede Gemeinde vertreten war. Indem sie sich in den sieben Zenden enger zusammengeschlossen hatten, waren die Gemeinden erstarkt. So konnten sie in die Landespolitik eingreifen, ohne dabei ihre eigenen internen Angelegenheiten zu vernachlässigen, für welche die Burgerschaft zuständig war. Die Beratungen und Beschlüsse dieses obersten Organs des Zenden, des Zendenrats, wurden massgebend, obwohl die Gemeinden und das Volk einen grossen Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten behielten. Einzelne Burger schwangen sich allmählich zu Dorfaristokraten empor; sie gewannen sowohl politisch als auch wirtschaftlich einschneidende Vorrechte gegenüber jenen, die bloss ansässig waren. Als die Bevölkerung zunahm und demzufolge die Nutzungsrechte des Einzelnen geschmälert wurden, begannen sich die Burger abzuschliessen. Wer arbeitstüchtig war und einen guten Leumund hatte, wurde gegen Bezahlung einer mässigen Eintrittsgebühr in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Einflussreiche Familien im Visp des 17. Jahrhunderts waren die Zuber, die In Albon, die Burgener und die Venetz. Sebastian Zuber hatte an der Landratssitzung 1604 teilgenommen, als die Protestanten vertrieben wurden, und den Staatsschreiber beerbt; er dominierte die Walliser Politik nicht weniger als 25 Jahre und brachte es sogar zum Landeshauptmann. Zuber geriet in die immer wieder aufflackernden Streitigkeiten zwischen dem Bischof und den Zenden hinein und war auch an Hexenprozessen beteiligt; diese Prozesse stellten damals eine Möglichkeit dar, den Besitz zu vergrössern, denn die Güter der Hingerichteten fielen jeweils dem Kastlan zu. Zuber baute am südlichsten Punkt des Kauffs, des Kaufplatzes, sein stattliches Herrschaftswohnhaus mit einem fünfgeschossigen Treppenturm. Seine Tochter heiratete in die Patrizierfamilie Venetz ein, deren Mitglieder ebenfalls in wichtige Ämter gelangten. Der wohl bedeutendste Visper Politiker der zweiten Jahrhunderthälfte war der dank eines Erbes schwerreiche Heinrich In Albon, Sohn des mächtigen Visper Landeshauptmanns Johannes In Albon und ab 1659 selbst in diesem Spitzenamt. Seine Söhne konnten ihm allerdings nicht das Wasser reichen. Dem Visper Magistraten, Landvogt, Zendenhauptmann, Landschreiber, Landratsabgeordneten und späteren Landeshauptmann Johann Jodok Burgener (1657–1721), auch Hans Jodok genannt, gehörte das Burgener-Haus am Martiniplatz mit seiner dreistöckigen Loggia und dem Turm. Das damalige Patrizierhaus, ein Barockbau, wurde im ausgehenden 17. Jahrhundert errichtet. Bauherrin soll Burgeners Frau Anna Cäcilia Lambien gewesen sein. Heute beherbergt das Gebäude das Gericht.