Kapitel Nr.
Kapitel 14.04

Nun gleiche Rechte für Burger, Gemeinder, Nichtgemeinder, Geduldete, Hintersässen und Heimatlose

Es gab weder eine schweizerische Staatszugehörigkeit noch ein schweizerisches Bürgerrecht, als die Schweiz ab 1815 – beim Eintritt des Wallis in den Bund der Eidgenossen – einen losen Staatenbund bildete. Es gab Burger oder Gemeinder einerseits oder dann Nichtgemeinder, genauer gesagt Geduldete, und somit eine grosse Zahl von Heimatlosen. Nur der Burger war als aktiv und stimmberechtigt anerkannt. So lautete die harte Realität für die Nichtburger in Visp, und zwar während mehr als einem halben Jahrtausend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Das waren extreme Unterschiede. Sie verschwanden 1848 mit einem Federstrich, zumindest theoretisch. Fortan wurden jedem Schweizer Bürger an seinem jeweiligen Niederlassungsort auf Bundesebene die gleichen politischen Rechte zuerkannt wie den bis zu diesem Zeitpunkt deutlich Privilegierten. Visp, das sich nun letztmals Vispach nannte, zählte damals rund 500 Einwohner und rund 100 Stimmberechtigte.

Die Bestimmung über das Bürgerrecht in der Bundesverfassung von 1848 hatte auch auf Gemeindeebene grosse Auswirkungen.

Strenge Auflagen für Hintersassen

Hatten die Einwohner durch Eigentum an Grund und Boden ein gewisses Anrecht auf Wohnsitz und Verbleib in der Burgschaft, so waren die Hintersassen – (zugezogene) Einwohner ohne Bürgerrecht – diesbezüglich ganz auf das Wohlwollen der Burger angewiesen. Sie wurden denn auch stets mit grosser Vorsicht und Vorbehalt aufgenommen. Der «Hintersitz» wurde gewährt, solange der «Hintersass» sich wohl vertrug. Dieses Wort wollte das Schirmverhältnis andeuten, wenn sich die Fremden im freien Land dorthin begaben, wo sie «hinter» den angestammten freien Landsleuten «sassen». Sie genossen wohl den Schutz der Burger, sonst aber waren sie gründlich hintangesetzt.

Toleriert, solange es Arbeit gab

Mehrmals trifft man auch auf die Bestimmung, dass die Hintersassen, die grösstenteils Handwerker waren, nur für ein Jahr aufgenommen wurden. 1625 waren sie sogar ausdrücklich als «Hintersassen des Jahres» im Protokoll aufgeführt. Sie waren nach Bedarf zugelassen, wurden nur so lange «toleriert», wie sie Arbeit hatten, mussten alle Bürger hohen oder niederen Standes zuvorkommend bedienen und durften nicht allein auf ihren «traffic» schauen. Für die Aufnahme war der Besitz von Schriften erforderlich und öfters war diese an die harte, die Rechte der Persönlichkeit verletzende Bedingung geknüpft, dass der Hintersass ledig bleibe. Denn die Burger wachten ängstlich darüber, dass ihnen niemand zur Last fiel, vor allem nicht durch Gründung einer Familie.

Aus der gleichen Sorge heraus wurden Handwerker wie der Gerber Josef Galliner nur für ein Jahr zur Probe aufgenommen, ob er «guth und werschaftes Leder mache». Dem Gerber «Z’Milachern» war 1758 angezeigt worden, wenn er der Burgerschaft nicht dienen wolle mit dem Gerben, so solle er die Burgschaft meiden. Johann Joseph Jost erhielt nur eine Bewilligung, wenn er kein eigenes «Feuer und Licht» unterhielt. Bevor Joseph Haas als Hufschmied zugelassen wurde, wollte man sich nach seinen beruflichen Kenntnissen erkundigen. Ihm wurde die Toleranzbewilligung erteilt, wohl weil er einem im Dorf gefragten Beruf nachging.

Gegen den Willen des Gemeinderats

In einer seiner ersten Sitzungen verweigerte der Gemeinderat der Munizipalgemeinde Visp am 8. April 1848 Johann Albrecht die Einrichtung einer Weinschenke. Albrecht setzte die Bewilligung aber bei der Kantonsregierung durch, sodass ihm das Patent dennoch erteilt werden musste.

Geschäftsleute von auswärts

1858 wirkte in Visp der Eisenhändler Andreas Cathrein. Er war wie Lorenzo Gentinetta aus Bognanco gekommen.

Gentinetta hatte 1819 einen «Recommandationstrunk» bezahlt, entrichtete als Krämer alle Jahre einen Louis d’or und spendierte alle sechs Jahre einen Trunk mit Brot und Käse.

1862 hatte der Wagnermeister Theodul Stark in der Burgschaft noch viel zu tun.

Niederlassungsrechte immer noch eng begrenzt

Die Hintersassen hatten stets den Eid auf die bestehende Ordnung zu leisten und in Notzeiten Hand zu bieten. Sie zahlten der Burgerschaft jährlich einen Beitrag, ein «Hintersitzgeld» für die Ausübung ihres Gewerbes und den Verbleib in der Burgschaft. Zudem wurden sie zu den Kosten des Gemeinwerkes herangezogen und hatten wie die Einwohner in späteren Jahren ihre Tesseln.

So standen die Hintersassen in der Burgschaft Visp nur auf sehr schmalem Boden. Auch nach der Französischen Revolution waren sie gemäss Schriften von 1818 nur zeitfristig geduldet. Unerwünschte Elemente schoben die Burger noch 1838/39 heftig ab.

Noch 1845, also knapp drei Jahre vor der Gründung des Bundesstaats, wurde sogar ehrbaren Leuten die «Toleranz» versagt. Im Frühjahr 1848, als kraft der neuen Kantonsverfassung die Munizipalgemeinde über die Toleranz entschied, waren die Niederlassungsrechte noch eng begrenzt.

Aufenthalt in allen Walliser Gemeinden

Die Kantonsverfassung von 1848 gewährte allen Kantonsbürgern volle Niederlassungsfreiheit, worauf das Gesetz von 1855 auch den «ewigen Einwohnern» den Aufenthalt in allen Walliser Gemeinden gestattete, sofern sie Heimatschein und Leumundszeugnis besassen. Allerdings mussten sie beweisen, dass sie fähig waren, sich und ihre Familie zu erhalten.

Die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit verschwanden mit der Bundesverfassung von 1848. Fortan war den Hintersassen wie allen anderen Schweizer Bürgern christlicher Konfession die freie Niederlassung gewährleistet (den jüdischen nicht). Mit der Verfassung von 1848 beziehungsweise 1874 fielen die Schranken zwischen Burgern, Einwohnern und zeitfristig Geduldeten (Hintersassen) endgültig.

Stimmrecht für Einwohner

Den grossen, endgültigen Schritt zur Gleichberechtigung tat die Bundesverfassung von 1848, die allen Schweizern am Aufenthaltsort volle Gleichberechtigung mit den Burgern in eidgenössischen, kantonalen und Gemeinde-Angelegenheiten verschaffte – dies, nachdem die «Hintersassen» vorher von jeglicher Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen gewesen waren. Ausgenommen blieben nur das Stimmrecht in burgerlichen Angelegenheiten und der Mitanteil an Burger- und Korporationsgütern.

Einwohner hatten in der Urversammlung stets nur ¼ der Gesamtzahl der Burger ausmachen dürfen. Diese Einschränkung war in der Verfassung vom 14. September 1844 gestanden und die Kantonsbürger waren nach einjährigem Wohnsitz in der Gemeinde zur Urversammlung zugelassen worden.

In der neu gebildeten Munizipalgemeinde wurde den ortsansässigen Einwohnern nach höchstens zwei Jahren die gleichen Rechte zugestanden wie den Burgern. Die Bundesverfassung von 1874 verkürzte diese Wartefrist der frisch Niedergelassenen auf drei Monate. Damit fand die durch die Französische Revolution mit Ungestüm vorangetriebene, durch konservative Kräfte mit Bedacht hintangehaltene Entwicklung ihren Abschluss.

Einbürgerung von Heimatlosen im 19. Jahrhundert

Gemäss dem Bundesgesetz die Heimatlosigkeit betreffend vom 3. Dezember 1850 konnten die Bundesbehörden Heimatlosen (1. Geduldete oder Angehörige, 2. Vaganten) ein Kantonalbürgerrecht und die Kantone ein Gemeindebürgerrecht ausmitteln.

Das Wallis zeigte keine besondere Eile, diesem Bundesgesetz Nachachtung zu verschaffen: Da vonseiten der Burgerschaften, die seit jeher die strenge Unterscheidung zwischen Burgern und Nichtburgern kannten, hartnäckiger Widerstand zu erwarten war, tat man vorerst einmal nichts.

In einem Einführungsgesetz vom 23. November 1869 versuchte der Grosse Rat die Verantwortung für die Heimatlosen auf die politische Gemeinde abzuwälzen: Artikel 3 sieht ausdrücklich vor, dass die Gemeindebehörden den ihnen zufallenden Heimatlosen das vom Bundesgesetz zuerkannte Recht verschaffen müssen. Doch der Bundesrat beharrte auf der Aufnahme ins eigentliche Burgerrecht, was am 3. Juni 1870 dann auch die entsprechende gesetzliche Regelung fand: Den Heimatlosen wurde ausdrücklich ein Burgergemeinderecht zuerkannt.

30 Heimatlose wurden Visper Burger

So wurden in Visp Einwohner und die tolerierten Hintersassen aufgenommen. Es gelangten insgesamt 30 Heimatlose mit ihren Familien in den Besitz des Visper Burgerrechts.

Gemäss dem Bundesgesetz von 1850 konnten die Heimatlosen mit hinreichendem Vermögen angehalten werden, sich in das volle Burgerrecht einzukaufen und somit der Nutzniessung des Burgerguts teilhaftig zu werden. Das kantonale Gesetz von 1870 erleichterte den Neuburgern den Einkauf, indem es von den bisher Heimatlosen für die Erlangung des vollen Burgernutzens nur die Hälfte der gewöhnlichen Eintrittsgebühr verlangte.

Doch von den Heimatlosen in Visp wiesen nur zwei ein genügend grosses Vermögen auf, um von dieser Vergünstigung Gebrauch machen zu können. So gab es ab 1870 während 120 Jahren genussberechtigte und nicht genussberechtigte Burger.

Die Einbürgerung von Heimatlosen gab in Visp Anlass zu einem langwierigen Prozess mit einer Familie, die sowohl in Visp als auch in Chippis das Recht des ewigen Einwohners besass. Da Visp bereits einen Zweig der Familie als Burger aufgenommen hatte, sollte Chippis dem anderen Zweig das Burgerrecht verleihen. Das Kantonsgericht entschied jedoch am 19. August 1913, dass dieser Familie die freie Wahl zwischen dem Burgerrecht entweder von Visp oder von Chippis zustehe.

Es gibt noch heute Oberwalliser Familien, deren Vorfahren als Heimatlose eingeburgert wurden. Wie Patrick Willisch in seiner Dissertation festhielt, waren das in Visp die Familien Domig, Furger und Gentinetta. Einer der bekanntesten Heimatlosen war der Kurarzt und Erfinder Ernest Guglielminetti, der mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in Bürchen eingeburgert wurde.

Visp burgerte 1870 im Verhältnis zu seiner Bevölkerung 10,7 Prozent seiner Bewohner ein, Brig 10,2 Prozent, Leuk 13,8 Prozent und Leukerbad 18,5 Prozent.

Nein und nochmals Nein!

30 Jahre nach der Bundesverfassung von 1848 stimmten die Walliser zum Gesetz betreffend die politischen Rechte der Niedergelassenen und Aufenthalter nur gerade mit 1 418 Ja gegen 10 714 Nein.

Landwirtschaft in 150 Jahren von 66 auf 4 Prozent

Waren 1848, bei der Gründung des Bundesstaats, noch zwei Drittel der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft tätig, waren es 1994 nur noch 4 Prozent