Staatsrat Burgener, ein Visper als Ehrenburger aller Unterwalliser Gemeinden
Seit 1815 lag die Exekutivgewalt im Wallis bei einem fünfköpfigen Staatsrat, der vom Landrat, der legislativen Behörde gewählt wurde. Den Landrat wählten die Zendenräte, das heisst eine Versammlung der Gemeinderäte jedes Zenden, unter Zuzug von Abgeordneten. Diese ernannte aber nicht das Volk; sie wurden von den Gemeinderäten bestimmt. Die Gemeinderäte schliesslich durfte das Volk wählen, allerdings aus einer vom amtierenden Gemeinderat aufgestellten Kandidatenliste.
So gelang es, den Einfluss des Volks wie bisher auf ein Minimum zu beschränken und den Ratsmitgliedern eine lange Amtszeit zu sichern. Die Demokratie hatte sich noch lange nicht durchgesetzt.
Sieben Sitze für 32 864, sechs für 42 936 Einwohner
Kurz vor dem Einfall der Franzosen 1798 hatte das Oberwallis den Unterwallisern die bislang vorenthaltene Freiheit und Gleichberechtigung gewähren müssen, wobei die Unteren benachteiligt blieben. Zwar erreichte das Unterwallis im Zuge der Revolution von 1798 die – relative – Gleichstellung mit dem Oberwallis, allerdings noch keine anteilmässige Vertretung in Parlament und Regierung, die der Bevölkerungszahl entsprochen hätte. Gemessen an den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen war die Verteilung noch nicht gerecht. Im Landrat hatte nämlich jeder Zenden ungeachtet seiner Bevölkerungszahl vier Sitze. Damit war die Vorherrschaft der sieben oberen Zenden gegenüber dem bevölkerungsreicheren unteren Landesteil mit sechs Zenden bereits gesichert. Immer wieder, aber stets vergeblich stellten die Unterwalliser Forderungen nach einer Vertretung im Landrat, die ihrer grösseren Bevölkerungszahl entsprach. Dies war durchaus berechtigt, denn die sieben oberen Zenden zählten 32 864, die sechs unteren 42 936 Einwohner.
Damit nicht genug; die Vorherrschaft wurde noch verstärkt dadurch, dass der Bischof von Sitten als Vertreter des Klerus ebenfalls einen Sitz und vier Stimmen im Landrat besass. Dass der vom Landrat gewählte Bischof stets Oberwalliser war – eine natürliche Folge der Vorherrschaft des oberen Landesteils – führte dazu, dass er regelmässig mit den Oberwallisern stimmte. Meistens blieben die Anträge der Unterwalliser im Landrat in der Minderheit.
Unterwallis weiterhin benachteiligt
So konnte die Reaktion des Volks im wirtschaftlich führenden, politisch jedoch stark benachteiligten unteren Landesteil auf die Dauer nicht ausbleiben. Mit dem Aufkommen der liberalen, dann radikalen Bewegung gab es einen Gegenpol zum katholisch-konservativen Lager. Ab 1830 befand sich das Unterwallis denn auch in einer ständigen Erregung und es forderte gebieterisch die volle Gleichberechtigung.
Einflussreiche Führer des Unterwallis hatten an ausländischen Universitäten studiert und von dort freiheitlich-liberale Ideen heimgebracht. Auch die Einwirkung der französischen Revolution und der Einfluss der ins Land heimgekehrten ehemaligen Soldaten und Offiziere in bourbonischen Diensten war unverkennbar.
Die Unterwalliser drängten mit Vehemenz auf eine entsprechende Vertretung. Ende der 30er-Jahre erreichten sie zwar verschiedentlich eine Mehrheit, doch genügte diese nie zu einer Verfassungsrevision, für die eine Zweidrittelsmehrheit erforderlich war. 1839 stellte das Unterwallis das Oberwallis vor vollendete Tatsachen und begab sich auf den Weg der Revolution.
In seiner Botschaft empfahl der Landrat das Postulat der Vertretung entsprechend der Volkszahl zur Annahme. Bei der Abstimmung waren 29 Abgeordnete dafür, 27 dagegen. Unter den Gegnern befand sich auch Bischof Roten mit seinen vier Stimmen. Wieder war die Zweidrittelsmehrheit von 39 Stimmen nicht erreicht.
Um einen Bruch zwischen beiden Landesteilen zu verhindern, beantragte der Staatsrat eine allgemeine Verfassungsrevision, was angenommen wurde.
Radikale führten Grundrechte ein
Gerechtigkeit für die Unterwalliser sollte erst die liberale Verfassung von 1839, die erste moderne Verfassung des Wallis bringen. Um die Revision der Verfassung an die Hand zu nehmen, wurde der Landrat auf den 14. Januar 1839 einberufen. Während die Oberwalliser diesen boykottierten, beschickten ihn die Unterwalliser Zenden mit je einem Vertreter auf 1 000 Seelen. Die Unterwalliser forderten, dass die Zahl der Abgeordneten pro Zenden gemäss Bevölkerungszahl festgelegt wurde, doch sollte es noch 24 Jahre dauern, bis dies so weit war. Nach hartem Ringen lag am 30. Januar 1839 ein Verfassungsentwurf vor, den aber die Oberwalliser nie anerkannten. Eine fast identische Fassung wurde dann jedoch am 3. August 1839 in Kraft gesetzt.
Sie führte Grundrechte wie die persönliche Freiheit, das Recht auf einen ordentlichen Richter, die Unverletzlichkeit der Wohnung und des Eigentums sowie das Verbot der bisherigen «ewigen und unablösbaren Grundlasten» ein. Die Pressefreiheit, die Monate zuvor noch enthalten war, wurde auf Drängen des Klerus nicht mehr in die Fassung vom August übernommen. Die Gewaltentrennung aber wurde streng durchgeführt. Der Grosse Rat ersetzte fortan den Landrat. Der Titel des Landeshauptmanns wurde abgeschafft. Jeder Zenden entsandte pro 1 000 Einwohner einen Grossrat ins Parlament. Neu gab es das Verfassungsreferendum. Das Volk musste jede Verfassungsänderung genehmigen.
Die vier heiss umstrittenen Artikel
Die vier ersten Artikel der Verfassung setzten sich ausdrücklich für die Rechte von Kirche und Klerus ein; sie bildeten einen der Hauptgegenstände der Kämpfe und Auseinandersetzungen um die Erneuerung und um die Gesetzgebung der nächsten Jahre:
- «Die heilige, katholische, apostolische, römische Religion ist ausschliesslich jene Religion des Staates; diese allein hat einen öffentlichen Gottesdienst; das Gesetz sorgt, dass selbe weder in ihrer Lehre noch in ihrer Ausübung gestört werde.
- Der hochwürdigste Bischof ist ein membrum natum mit einer Stimme (im Landrat) und hat das Recht, sich durch jemanden aus dem Klerus nach freier Wahl vertreten zu lassen.
- Aus jedem der drei (zu schaffenden) Arrondissements wählt sich die respektive Geistlichkeit einen aus ihrer Mitte, der auf die Dauer von zwei Jahren Gesandter auf dem Landrate ist.
- Unbedingte Gewährleistung der Rechte und Eigentümlichkeiten der H. Geistlichkeit sowie jener in diesem Staate befindlichen geistlichen Korporationen und Beibehaltung der Gesellschaft Jesu für den Unterricht der Jugend.»
Gespaltenes Wallis
Die liberalen Verfassungen vom 30. Januar 1839 und vom 3. August 1839 festigten die repräsentative Demokratie; sie führten die Proporzwahl im Verhältnis zur Bevölkerungsgrösse der Zenden ein, Allerdings spalteten sie das Wallis in zwei Teile. Während den politischen Wirren von 1839/40 war wieder einmal die Rede von einer Trennung des Ober- vom Unterwallis, aber keines von beiden wollte ernsthaft etwas davon wissen.
In der Volksabstimmung vom 7. Februar 1840 nahm das Unterwallis die Verfassung mit überwältigendem Mehr an, während der Entwurf dem Oberwalliser Volk nicht einmal vorgelegt wurde.
Die Oberwalliser waren mit dieser Entwicklung der Dinge ganz und gar nicht einverstanden.
1840 intervenierte die eidgenössische Tagsatzung, um das Oberwallis mit seiner dissidenten Regierung in Siders und das Unterwallis mit der rechtmässigen Regierung in Sitten wiederzuvereinen, und scheiterte.
Der Konflikt führte im Unterwallis in den 40er-Jahren zu bürgerkriegsähnlichen Waffengängen und 1847 gar zum Sonderbund, der die Eidgenossenschaft zu spalten drohte. In dieser unruhigen Zeit waren zwei Visper an der Spitze der Regierung: Josef-Theodul Burgener und Joseph Anton Clemenz, beide als Staatsrat. [Siehe auch Kapitel 15.05 «Clemenz, der vielseitigste Oberwalliser Politiker des 19. Jahrhunderts».]
90 Prozent der Grossräte waren Juristen
Das kantonale Parlament, das 1847 gewählt wurde, umfasste 85 Abgeordnete. 77 davon waren Juristen, 3 Professoren, 3 Ärzte, 1 Diplomat und 1 Oberst.
Neue liberal-radikale Regierung
Der gemäss der neuen Verfassung erstmals im Verhältnis zur Bevölkerungszahl gewählte Grosse Rat trat am 18. Mai 1840 unter dem Vorsitz von Joseph Barman zu seiner ersten Session zusammen; Barman gehörte der gemässigten liberalen Partei an.
Als erstes nahm die Versammlung Kenntnis von einer Botschaft des Staatsrats, in der dieser seine Gesamtdemission mitteilte.
Die neue Regierung wurde wie folgt zusammengesetzt: Joseph Theodul Burgener, Visp, als Präsident, Javier de Riedmatten, Sitten, Vizepräsident, Maurice Barman, Saillon, François Delacoste, Monthey und Franz Kaspar Zen-Ruffinen, Leuk. Mit Ausnahme von Zen-Ruffinen hatten sie alle bereits der bisherigen, 1836 gewählten Regierung angehört.
1840 und 1841 war Josef Theodul Burgener Staatsratspräsident dieser ersten liberal-radikalen Regierung des Wallis.
Burgeners Einsatz für Unterwallis
Der Visper Jurist Josef Theodul Burgener (1782–1852), Enkel von Landeshauptmann Franz Joseph Burgener, war im Walliser Staatsrat Direktor der Zentralpolizei. Während sechs Jahren – 1837–1843 – gehörte er als erster Vertreter des Zenden Visp der Regierung an; Burgener war ein gemässigter Konservativer und als solcher einer der Wegbereiter des Proporzes in der kantonalen Legislative gewesen. Er hatte die Unterwalliser unterstützt, die – vollauf begründet – um eine gerechtere Vertretung im Grossen Rat kämpften. Schon damals zählten sie bedeutend mehr Einwohner als die Oberwalliser, unter deren Joch sie während mehr als vierhundert Jahren gelitten hatten. Damit machte sich Burgener bei den dominierenden Oberwallisern alles andere als beliebt. Während einer langen Zeit wagte er es nicht mehr nach Visp zurückzukehren.
Für seine Verdienste um die Rechte des Unterwallis und in Anerkennung seiner Unterstützung ernannten ihn 1839 sämtliche Unterwalliser Gemeinden zum Ehrenburger.
Rückkehr der Konservativen an die Macht
Beim Umsetzen ihrer Reformen sollte die liberale Regierung dann scheitern. Die Konservativen nahmen die Macht 1844 wieder an sich – dies nach der Niederlage der Jungen Schweiz bei der Schlacht am Trient.
Landeshauptmann nur noch Sitzungspräsident
1840 trat anstelle des bisherigen Landeshauptmanns das Kollegium des 5-köpfigen Staatsrats als Regierung des Kantons.
Die früher so einflussreiche Bezeichnung «Landeshauptmann» aber gefiel weiterhin. Neu trug sie während eines Jahres der Vorsitzende des kantonalen Parlaments, der Präsident des Grossen Rates; 365 Tage lang war er höchster Walliser. Seine einzige Kompetenz jedoch war, dass er die Sitzungen des Grossen Rates leitete und möglichst vielen Anlässen aller Art im ganzen Kanton beiwohnte.
Oberaufseher über die Wälder und Gewässer
Zur Zeit des «Département du Simplon», unter der französischen Herrschaft, war Burgener Oberaufseher über die Wälder und Gewässer gewesen. An der Eidgenössischen Tagsatzung vertrat er 1837 als Abgeordneter das Wallis – als einziger Visper Politiker in den Jahren 1815–1848. Weitere Ämter waren: Grosskastlan von Visp (1820–1830), Präfekt des Bezirks Visp beziehungsweise Präsident des Zendenrats (1830–1834), Mitglied des Landesgerichts (1836/37), schliesslich Abgeordneter von Visp im Grossen Rat (1847–52). 1835 wurde er zudem Ritter des Mauritius-und-Lazarus-Ordens.
Er starb am 27. Dezember 1852 in Sitten.
Burgener auch im 19. Jahrhundert bedeutende Visper Familie
Bannerherr Anton Alois Burgener (1750–1802) hatte acht Kinder, sechs Töchter und zwei Söhne. Von diesen hatte einzig Joseph Theodul Burgener, erster Visper Staatsrat, einen Sohn: Adolf (1811–1894), der je 46 Jahre Präfekt und Grossrat war und mit Emma von Riedmatten drei Söhne hatte: Jodok, Francis und Josef.
Jodok Burgener (1842–1903) war Präfekt (1893–1903) und Vater zweier Söhne; Oswald, der erste Visper Bankier als Agenturleiter der Walliser Kantonalbank, der einen Sohn Andreas (Arzt) und eine Tochter hatte, die beide von Visp wegzogen.
Francis Burgener (1874–1953), Gemeindepräsident, Grossrat und Instruktionsrichter hatte folgenden Nachwuchs: Jodok (Ingenieur), Kaspar (Arzt), Juliane und eine weitere Tochter, die Adolf Providoli heiratete. Deren einziger Sohn Bruno Providoli ist heute mit seiner Familie der einzige Nachkomme dieses Burgener-Zweigs in Visp. Emanuel (1845–1908), Arzt, blieb ledig. Den Namen Burgener tragen so die direkten Nachkommen von Adolf, des Adolf (1844–1901), der Vater zweier Söhne war, weiter.
Josef Burgener (1872–1964), während 20 Jahren Staatsrat, blieb ledig. Paul (1874–1951), der populäre Arzt der Region, sorgte als einziger dafür, dass das Geschlecht Burgener bis zum heutigen Tag in Visp präsent ist. Seine Söhne Jules, Adolf und Bernhard, alle Ärzte, gingen ausserhalb von Visp ihrem Beruf nach. Schwester Anna starb früh; so verblieb einzig der Jüngste, Paul Eugen (1917–2001), Kantonsrichter, von dem noch die Rede sein wird.
Ab 1840 erschien «Der Walliser Bote»
Am Dienstag, 1. September 1840, erschien in der Druckerei Schmid und Murmann in Sitten erstmals ein vierseitiges Blatt, «Der Walliser Bote», eine Wochenschrift für Bürger und Landleute.
Im Leitartikel des Redaktors hiess es, diejenigen, welche die ihnen übersandte Nummer 1 des Boten nicht vor dem Erscheinen der zweiten Nummer zurücksenden, würden als Abonnenten angesehen. Der Bote werde in Zukunft alle Dienstage nachmittags erscheinen. Das Erscheinen der neuen und ersten Zeitung für das Oberwallis wurde unter anderem wie folgt begründet:
«Anders aber muss es sich von jetzt an gestalten, denn wir wollen uns nicht mehr als Blinde am Narrenseil herumziehen lassen. Volk soll ferner kein leerer Name, sondern Landessouverain sein, dessen anerkannter Wille allein Landesgesetz ist. Dieses ist des Volkes Recht und seine Rechte will es geltend machen. Daher will das Volk wissen, was für Gesetze vorgeschlagen werden, wissen, wie seine Vertreter sich verhalten und welche Männer durch ihre Volksliebe und Tauglichkeit sich des allgemeinen Vertrauens würdig machen; wissen, was im In- und Auslande vorgeht, so auf Beförderung oder Gefährdung unsrer Religion und Freiheit Bezug hat. Ja, das wollen und müssen wir und zwar zeitig genug, das heisst wöchentlich, vernehmen. Nur auf diese Weise ist es unserer wachsamen Entschlossenheit möglich, unsere Freiheit und Religion zu schützen.» Und weiter: «Da erkannte ich, dass es nur durch den Druck möglich sei, all dieses Wissensnöthige wöchentlich jedem Walliser bis in die tiefsten Thäler hinein zu erzählen; ja bekennen musste ich mir, dass ein Blatt dieser Art eine Zeitung heisst und dass diese Zeitung uns vom Mittelpunkte der Geschäfte, vom Sitze der Regierung, also von Sitten aus kommen müsse.»