Kapitel Nr.
Kapitel 03.03

Untere Kirche aus dem 10. oder 11. Jahrhundert

Die Fundamente der sogenannten unteren Kirche werden ins 11. oder 10. Jahrhundert datiert. Es wird vermutet, dass die untere Kirche, auch Liebfrauen-, später Burger- und Dreikönigskirche genannt, auf dem nördlichen Biel früher gebaut wurde als die St. Martinskirche, die auch die Stammkirche der Grosspfarrei Visp war. Allerdings ist umstritten, ob zuerst die St. Martinskirche oder eine Marienkirche (untere Kirche) gebaut wurde.

Anlässlich der Restaurierung der unteren Kirche führte Werner Stöckli aus Moudon in den Jahren 1972/73 archäologische Grabungen durch. Diese zeugten von einer bewegten Baugeschichte des Gotteshauses. In der südwestlichen Seitenwand der Chorkrypta förderten sie ein aufschlussreiches Boden-Wand-Fragment der ältesten Kirche an diesem Standort zu Tage. Dieser erste Kultbau dürfte aus dem 11., allenfalls sogar aus dem 10. Jahrhundert stammen. Es handelte sich um eine Saalkirche mit eingezogenem Rechteckchor. Vermutlich stand sie unter einem Chorturm, der um 30 Grad weiter nach Süden gerichtet war als der spätere Bau.

Die Kirche stand parallel zu den beiden Gassenzügen des Gräfinbiel und war daher, wie angenommen wird, mit ihrer Chorstirnmauer in die eventuell gleichzeitig entstandene Befestigungsanlage nördlich des Kircheneingangs einbezogen.

Das erste Bild der unteren Kirche von Visp entstand 1642 in der Ortszeichnung von Merian. Nordwestlich des Martiniplatzes ist das Haus von Landeshauptmann Johann In Albon (Altes Spittel) aus dem Jahr 1586 zu sehen. Auf dem nördlichen Hügel, dem Gräfinbiel, das Haus von Simon In Albon (1519) mit seinem markanten Treppengiebel, es ist schon durch die Spitzturmbrücke mit dem heutigen Weissen-Haus verbunden. Das Kaplaneihaus inmitten eines Rebbergs stand bereits dort, wo sich der Schulhausplatz befindet.

Foto von Originaldruck, Peter Salzmann

Kirchenspaltung

1054 kam es zum Schisma, der Spaltung zwischen der byzantinischen Kirche im Osten und der lateinischen Kirche.

Ab 1068 Julianischer Kalender

Von 1068 an – ab 1116 ohne Ausnahme – war die christliche Zeitrechnung aufgrund des Julianischen Kalenders in Brauch.

Als Franz von Assisi den Orden gründete

Von 1181 bis 1226 lebte Franz, der heilige Ordensgründer der Franziskaner, im italienischen Assisi.

Adelige gegen Grosspfarrei?

Im 12. Jahrhundert bestand in Visp offenbar eine Rivalität zwischen dem Zendenhauptort und der Grosspfarrei einerseits und den Visper Landleuten und den vielen Adeligen am Ort anderseits. Letztere sahen sich deswegen veranlasst, für sich eine eigene Kirche zu bauen, um bei möglichen kriegerischen Belagerungen der Burgschaft dennoch Gottesdienste zu ermöglichen.

Dauerhafte Schieferplatten für Dächer

Seit dem 12. Jahrhundert wurde im Oberwallis Schiefer für Dacheindeckungen gebraucht. Dieses Material erwies sich, richtig unterlüftet, als sehr dauerhaft.

Schenkung auf dem Visper Friedhof

Im Zusammenhang mit der erstmaligen Erwähnung der Pfarrei Visp 1214 war auch die Rede vom Friedhof: So sollen Rudolf von Raron und dessen Sohn mit Kuno von Brienz auf dem Friedhof von Visp den Kirchenschatz von Brienz an das Kloster Einsiedeln verschenkt haben.

Zerstörung der Kirche Ende des 13. Jahrhunderts

Um die Zeit des Regierungsantritts von Bischof Bonifaz von Challant (1289–1308) hatten sich einige Vasallen etliche Lehen der Kirche angeeignet oder sich geweigert, dem Bischof als rechtmässigem Landesherrn zu huldigen und ihm den Lehenseid zu leisten. Damit erklärt sich der Krieg, den dieser Bischof in den 90er-Jahren des 13. Jahrhunderts gegen die aufständischen Edelleute im Wallis führte.

Der Krieg selbst ist urkundlich bezeugt. Im Friedensvertrag von 1299 wird nämlich ausdrücklich erwähnt: «Friedensschluss nach dem Krieg, der zwischen Bonifaz, der Kirche von Sitten und den Walliser Landleuten einerseits und dem Peter von Turn anderseits geführt wurde.» Auf diesen Krieg bezieht sich auch eine Urkunde aus dem Jahr 1298: «Herr Nikolaus, Pfarrer dieser Kirche von Visp, hat das Gotteshaus (Kirche) wiederhergestellt, das im Krieg gegen Peter von Turn zerstört und mit feindlichem Feuer dem Boden gleichgemacht wurde.»

Bereits wenige Jahre zuvor, 1295, soll der Sittener Kirche grober Unbill zugefügt worden sein. Vielleicht wurde die Liebfrauenkirche in Visp bereits damals verwüstet.

1295 erreichte den Bischof Bonifaz die Zusage des Reichsvogts von Kienberg (Bern), dass dieser dem Grafen von Turn keine Hilfe leisten werde. Im Verein mit dem Grafen Jocelin von Visp erreichte die Gemeinde Leuk am 4. April 1296 eine Vereinbarung zur Verteidigung des Eigentums der Kirche, der Landleute und der Gemeinden.

Liebfrauenkirche in Flammen

Bei der Fehde des Tyrannen von Turn gegen die Grafen von Visp 1260 und beim Aufstand des Adels 1296 gegen Bischof Bonifaz von Challant wurde die Kirche – wohl die damalige Marienkirche auf dem befestigten Gräfinbiel – ein Raub der Flammen. Eine Urkunde von 1298 besagt: «Herr Nikolaus, Pfarrer dieser Kirche von Visp, hat das Gotteshaus wiederhergestellt, das im Krieg gegen Peter von Turn zerstört und mit feindlichem Feuer dem Boden gleichgemacht wurde.»

Die untere Kirche, früher auch Liebfrauenkirche, Dreikönigskirche und Burgerkirche. Zur Zeit der Aufnahme stand noch das Kaplaneihaus in den Reben.

Fotograf unbekannt, Postkarte zVg/Margrit Truffer

Neubau der Kirche um 30 Grad verschoben

Walter Ruppen geht davon aus, dass der zweite, grössere Kirchenbau, dem die erste Kirche weichen musste, wohl nach einem der beiden bekannten Brände im 13. Jahrhundert, 1260 und 1296, errichtet wurde und vielleicht noch in romanischen Formen gehalten war.

Aus den erwähnten archäologischen Grabungen lässt sich mit Sicherheit schliessen, dass die neue Kirche, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erbaut wurde, um 30 Grad weiter nach Osten gerichtet wurde. Dabei ging es wohl nicht so sehr darum, den Chor mehr gegen den symbolreichen Aufgang der Sonne zu wenden als vielmehr darum, Platz für ein grösseres Kirchenschiff auf der nicht eben geräumigen Hügelkuppe zu gewinnen.

Darüber, wer die Kirche erbaut hat, gehen die Meinungen auseinander. Wahrscheinlich ist, dass sie ein Werk der Visper Bürger war, die sie schliesslich benutzten und selbst dann daran festhielten, als die St. Martinskirche errichtet war. Es soll nämlich zwischen dem Zendenhauptort und der Grosspfarrei einerseits und der Burgerschaft Visp anderseits eine Rivalität bestanden haben.

Das Sakramentshäuschen

Die Arbeiten an der unteren Kirche zogen sich ab dem 13. Jahrhundert bis ins 15. Jahrhundert hinein. Das Sakramentshäuschen auf der linken Seite des Chors entstand in einer frühen Phase dieser langen Bauzeit.

Romanischer Turm aus gotischer Zeit

Gemäss Walter Ruppen sind die Türme in der Regel älter als die Kirchenbauten, deren Schiffe und Chöre zu klein wurden. Solange die Proportionen zwischen Kirche und Turm durch Kirchenneubauten nicht allzu sehr gestört waren und eine Pfarrei nicht auf den Gedanken eines Renommiergeläutes verfiel, konnte ein Turm über Jahrhunderte hinweg genügen. Bei der Burgerkirche fand man zwischen Glockenturm und Chor verwitterten Chorbewurf, was klar für eine spätere Entstehung des Turms spricht; man datiert ihn auf den Beginn des 14. Jahrhunderts oder gar ins 13. Jahrhundert. Im frühen 14. Jahrhundert wurden also im Wallis noch Türme mit rein romanischen Formen errichtet. Romanisch sind die gekuppelten Rundbogenfenster, sogar frühromanisch die Zwergbogenfriese über den Fensterzonen. Auf eine späte Entstehung deutet jedoch die ausserordentliche Schmuckfreude, mit der die romanischen Motive am Visper Turm vorgetragen werden: buntes Sichtmauerwerk dank der Wahl verschiedenster Steine und farbige Bemalung der Zwergbogenfriese. Die zierlichen Fensteröffnungen, die ursprünglich nach allen vier Seiten völlig ausgebaut waren, lassen darauf schliessen, dass Chor und Schiff früher nur eine bescheidene Höhe hatten.

Später Kult in der Krypta

In Krypten wähnt man unwillkürlich älteste Bauteile vorzufinden; sie erfreuten sich in der Romanik zum letzten Mal grosser Beliebtheit. Die darauffolgende Gotik schätzte lichtere Räume. Da ist es erstaunlich, in der Krypta «Maria zum Härd» der Burgerkirche eine erst im 15. Jahrhundert in den Boden des gotischen Chors eingetiefte Pfeilerhalle vorzufinden. Der Heiligenkult in Krypten war im damaligen Wallis noch lebendig; die Krypta der St. Theodulskirche in Sitten schüttete man erst um 1500 zu.

Gnadenstätte Maria zum Härd

Die Gnadenstätte «Maria zum Härd», die noch im 20. Jahrhundert öfters von nah und fern besucht wurde, befindet sich auf der westlichen Seite der Krypta: ein stilles Plätzchen, das zum Gebet einlädt.

Gemäss alter Überlieferung hat sie die Gräfin Isabella de Biandrate erbaut, die 1365 in Naters einem Meuchelmord zum Opfer fiel. In Wirklichkeit könnte die Kapelle jedoch bedeutend älter sein. Urkundlich bezeugt ist ihr Bestehen erst seit 1424: Am 10. Mai 1424 testierte Johannes Rormatter im «Inlas» bei Stalden eine jährliche Gilt von 2½ Schilling auf die «Kinnmatta, jenseits der Kinnbruccun». Dieser Betrag war bestimmt «zu ewigen» Zeiten eine runde Wachskerze auf dem Altar der Mutter Gottes, der sich unter dem Hochaltar der Kirche «Unserer Lieben Frau» befindet, zu unterhalten.

1614 ordnete Bischof Hildebrand Jost an, den Altar neu zu bemalen. Die Jahrzahlen 1761 und 1850 auf dem Gewölbebogen oberhalb des Altars zeugen davon, dass die Kapelle in diesen Jahren erneuert und ausgebessert wurde.

Das Erdbeben von 1855 beschädigte auch dieses Kapellchen schwer, sodass es bedeutende Opfer kostete, es wieder instand zu setzen. 1875 erfolgte eine Restaurierung des Altars; die Rechnung belief sich auf 170 Franken. Im gleichen Jahr fertigte Altarbauer Müller aus Wil eine neue Statue der Mutter Gottes für 130 Franken an. Die letzte Ausmalung der Kapelle Ende der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts kostete 1 500 Franken und wurde als gelungen bezeichnet.

Sechs Glocken seit 1790 in Betrieb

Auf der grössten der sechs Glocken der Kirche befindet sich eine lateinische Inschrift, deren deutsche Übersetzung lautet: «Fünf Glocken waren wir hier fast durch zwei Jahrhunderte; jetzt aber haben sechs harmonische Töne den Vorzug gefunden. Darum hat die edle Burgschaft Visp auf ihre Kosten uns in sechs umgiessen lassen. Ich schlage alle Stunden; sei glücklich euch die letzte. Im Jahre 1790 sind wir, ich und meine fünf Schwestern, gemacht worden durch Joh. Bapt. Gillot, Joh. Bapt. Dupont, Ignaz Sanriot, Glockengiesser aus Frankreich.»

So wurde das Handwerk entschädigt

Anfangs des 15. Jahrhunderts versah der Meister Ludwig die Kirche mit Glasfenstern. Der Wirt Stephan, bei dem Ludwig logierte, berechnete die Zehrkosten für den Meister und die Gesellen auf 3½ Gulden.

Aufschlussreich ist die Verteilung der Kosten, die sich bei der Anschaffung zweier Glocken und der Ausbesserung des Friedhofs der St. Martinskirche auf 100 Gulden beliefen. Wer Haus und Güter besass, musste vier Ambrosianer, wer Haus, aber keine Güter besass, zwei Ambrosianer entrichten. Wer schliesslich weder Haus noch Güter besass, bezahlte einen Ambrosianer (1 Ambrosianer = 5 Pfennig, 1 Pfennig = 1/16 Batzen, 1 Batzen = 14½ Centimes, 16 Ambrosianer = 1 Gulden).

Beinhauskapelle der unteren Kirche

Zur Burgerkirche beziehungsweise Liebfrauenkirche gehörten ein Friedhof – wie bei der Pfarrkirche –, ein Beinhaus und eine eigene Kapelle. Diese befand sich an der westlichen Seite des Chors, direkt neben der Kapelle Maria zum Härd. Der Altar im Beinhaus der Liebfrauenkirche wird 1507 erwähnt.

Die Kapelle wurde 1855 durch das Erdbeben zerstört, während Friedhof und Beinhaus schon früher aufgehoben worden waren. 1862 gestattete Bischof de Preux, die Ruinen völlig niederzureissen. An der Stelle des einstigen Kapellchens wurde ein Garten mit Ziersträuchern angelegt.

Die Patrone der unteren Kirche

Der Dreikönigskult im Wallis dürfte von Mailand her beeinflusst worden sein. In Visp sind «die drei» die Kirchenpatrone der unteren Kirche.

Garten bei der Liebfrauenkirche

Junker Franz de Platea belehnte am 20. Mai 1459 Theodul ze Roten um 1 Schilling Gilt mit einem Garten unterhalb der Liebfrauenkirche.

Baumeister Ulrich Ruffiner am Werk?

Die Fenster an der südwestlichen Ecke der Kirche haben eine auffallende Ähnlichkeit mit dem Rundbogenfenster der St. Germaner Sakristei. Der Baumeister hat sich auch hier an den Stil der damals noch ganz romanischen Kirche angepasst. Fachleuten drängt sich deshalb die Frage auf, ob dieser Teil ebenfalls von Ulrich Ruffiner gebaut wurde. Ruffiner, Baumeister aus dem Prismell, war der führende Mann der kraftvollen Walliser Spätgotik, der Steinmetz, Baumeister und Ingenieur, den man wohl als den bedeutendsten Walliser Architekten überhaupt bezeichnen darf und dessen erster grosser Bau die Kirche auf der Burg in Raron war. In Visp baute er 1544 das Zenden-Rathaus und machte sich im gleichen Jahr an die Konstruktion der berühmten Kinnbrücke in Stalden.

Nach der Restaurierung 1972 bis 1975 unter Aufsicht der eidgenössischen und kantonalen Denkmalpflege präsentiert sich die untere Kirche in neuem Glanz. Das Kaplaneihaus steht nicht mehr.

© Thomas Andenmatten

Neubau statt Sanierung

Um 1700 wurde beschlossen, die Liebfrauenkirche einer Besichtigung zu unterziehen, um über eine Reparatur oder einen Neuaufbau entscheiden zu können. Offensichtlich entschied man sich hierauf für den Neubau, denn es wurde beschlossen, die dafür notwendigen Baumaterialien anzuschaffen. Das Kirchenschiff wurde in den Jahren 1710 bis 1730 neu gebaut. Der Hochaltar aus Stucco lustro wurde 1724 von Giovanni Battista Rappa aus Como geschaffen. Die Perrig-Chronik aus der Mitte des 18. Jahrhunderts bezeichnet die Burgerkirche einfach als «neue Kirche». Immerhin weisen die Kapelle Maria zum Härd, das Sakramentshäuschen auf der linken Seite des Chores und andere Bauteile auf eine viel frühere Epoche hin, sodass anzunehmen ist, dass der Neubau des 18. Jahrhunderts nur eine umfassende Erweiterung der alten Kirche bedeutet.

Verkauf des Kaplaneihauses verhindert

Um 1770 brannte das Kaplaneihaus in den Reben westlich der Kirche ab. Es wurde beschlossen, es umgehend wieder aufzubauen.

Das Erdbeben von 1855 zerstörte das Schiffsgewölbe, die Orgel, die Seitenaltäre und Stühle. 1869 bis 1872 erfolgte die Gesamtrenovation der erdbebengeschädigten Kirche.

1922 beantragten die Burgergemeinde und die Pfarrgemeinde, das Kaplaneihaus zu verkaufen und den Kaplan im zweiten Stock des Pfarrhauses einzuquartieren. Der Bischof lehnte dieses Ansinnen der Visper jedoch ab.

[Siehe auch Kapitel 23.12 «Das restaurierte Bijou der Visper Altstadt: die untere Kirche».]

Weitere Inhalte des Kapitels 3, 999–1200

Visp als Teil des bischöflichen Herrschaftsgebiets dem Rotten entlang

Kapitel Nr.
Kapitel 03
Zeithorizont
999–1200