Kapitel Nr.
Kapitel 21.01

Visper brachten die Petrochemie zum Laufen

Ende der 50er-Jahre zeichnete sich bei den Produktionszentren der ausländischen Konkurrenz der Lonza eine Verlagerung von der Kohle zum Erdöl und dessen Derivaten als Rohstoff-Grundlage ab. Im Interesse ihrer Konkurrenzfähigkeit durfte die Lonza als Produzentin im Bereich der Basis- und Zwischenproduktion für die Veredelungsindustrie diese weltweite Entwicklung nicht übersehen. Angesichts dieser Situation wurde der Entschluss, in den Bereich der Petrochemie einzutreten, unausweichlich. Die Lonza sah sich gezwungen, ihre Produktion auf Erdölverarbeitung sowie auf Acetylen-Chemie umzustellen. Ihre Leitung war zur Überzeugung gelangt, dass das angestammte Fabrikationsprogramm mit Petrochemie rationeller und kostengünstiger hergestellt werden konnte. Karbid sollte bald ausgedient haben.

1967 waren der Standort Lalden, wo sich die Benzinspaltanlage befand, und das Werk Visp mit einer Brücke über den Rotten verbunden. Mit dem Bau der ursprünglichen Teranol und dem Aufbau der Petrochemie 1965 war nun auch die Gemeinde Lalden Standort der Lonza AG.

ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Comet Photo AG Zürich, Com_F67-11111 CC BY-SA 4.0

Rationeller und kostengünstiger produzieren

1959 fällte das Unternehmen den Entscheid zugunsten einer Benzinspaltanlage in Lalden. Ende der 50er-Jahre nahm die Lonza in diesem Zusammenhang mit dem italienischen Konzern Montecatini Fühlung auf, um eventuell das von diesem Unternehmen entwickelte Verfahren zur Benzinspaltung in Lizenz zu übernehmen.

Lonza verstand diesen Schritt nicht so sehr als einen Sprung in die Petrochemie, was die Erschliessung neuer Tätigkeitsgebiete hätte bedeuten können. Dass sich im Zug des Übergangs zur Petrochemie die Aussicht eröffnete, die bisherige Aktivität durch neue, bisher nicht gepflegte Sparten zu ergänzen, war zwar nicht unerwünscht, aber doch eher von sekundärer Bedeutung. Primär wollte man eine rationellere und kostengünstigere Produktion für das angestammte Fabrikationsprogramm ermöglichen. Es ging dabei um die Rückgewinnung der Wirtschaftlichkeit, der Konkurrenzfähigkeit, also um die künftige Existenz des Unternehmens.

Die Lonza von oben im Jahr 1967, als sie auf Petrochemie umgestiegen war. ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Comet Photo AG Zürich, Com_F67-11108 CC BY-SA 4.0

Verwaltungsrat ohne Chemiker

Nach gründlicher Überprüfung der wenigen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten unterzeichnete die Lonza 1960 den Lizenzvertrag mit Montecatini. Zur Wahl hatte auch ein belgisches System gestanden, das sich aber für die Bedürfnisse der Lonza als weniger vorteilhaft erwies. Die italienische Methode versprach auch eine Rückgewinnung der Wärme.

Der Verwaltungsrat der Lonza, dem zu diesem Zeitpunkt erstaunlicherweise kein einziger Chemiker angehörte, übertrug dem Unternehmen Montecatini die Lieferung und Errichtung der gewählten Leichtbenzin-Spaltanlage. Als Investitionsplafond setzte man sich eine obere Grenze von 100 Millionen Franken. Mit dem Standort Lalden wurde ein Terrain gewählt, das sich harmonisch an den schon bestehenden Produktionskomplex des Werks Visp angliederte.

In guten Treuen war man zur Ansicht gelangt, dass es sich beim Verfahren der Montecatini um einen ausgereiften und industriesicheren Prozess handelte.

Um am Markt bestehen zu können, stellte die Lonza ihre Produktion auf Erdölverarbeitung sowie auf Acetylen-Chemie um. 1961 startete sie mit dem Bau der neuen Produktionsstätte. Die Benzinspaltanlage, die sogenannte Crackanlage in Lalden im Jahr 1964.

Fotograf unbekannt, zVg/Raymond Perren

Baubeginn 1961

1961 startete die Lonza mit dem Bau der neuen Produktionsstätte. Damit begann für sie, wie sich später herausstellen sollte, ein hindernisreicher und kräftezehrender Wettlauf mit der Zeit, in dessen Verlauf das einmal gesteckte Ziel mehrmals im Nebel verschwand oder in weite Ferne rückte. Denn beim Aufbau der neuen Anlage im Werk haperte es.

Vorerst aber schien noch alles bestens; im Geschäftsbericht von 1961 schrieb die Lonza: «Der Aufbau unserer petrochemischen Anlagen ist nunmehr voll im Gange. Wir erwarten, dass sie Mitte März 1963 zum Anlaufen kommen werden, um auf eine neuartige, vor allem kostengünstigere Technik wechseln zu können.»

1700 Arbeitsplätze

1962 zählte das Werk Visp der Lonza 1 693 Arbeitsplätze.

Schwerwiegende Mängel und Ingenieurfehler

Die ursprüngliche Planung sah also vor, die Anlage im Verlauf des Jahres 1963 in Betrieb zu nehmen, um anfangs 1964 voll produzieren zu können. Schwerwiegende Mängel und grobe Ingenieurfehler führten jedoch zu einem Zeitrückstand, der für die Lonza sehr negativ ins Gewicht fiel. Die Ingenieure der italienischen Lieferfirma brachten ihre Apparate einfach nicht zum Laufen. Die Lonza stand vor dem schwierigsten all ihrer Probleme.

Anlage in Lalden mit der berüchtigten Fackel, die während der nicht ganz problemlosen Zeit der Einführung der Petrochemie nächtelang die Talebene bis hinauf zu den Bergdörfern beleuchtete.

1964, Fotograf unbekannt, zVg/Raymond Perren

Ein Dynamiker übernahm die Führung

An der Generalversammlung vom 14. Mai 1964 in Basel wurde Dr. Jürg Engi in den Verwaltungsrat gewählt; gleichzeitig vertraute man ihm das Präsidium an. Damit hielt zwar kein Chemiker Einzug in das erste Stockwerk des imposanten Lonza-Hochhauses in Basel, dafür aber – wie Lonza damals verlauten liess – ein Dynamiker.

Einen solchen benötigte das Unternehmen zu jener Zeit dringend. Inzwischen hatten sich die Dinge in Lalden nämlich alles andere als günstig entwickelt. Lonza war beträchtlich in die Enge geraten und bedurfte, um aus dieser schwierigen Situation herauszukommen, dringend einer energischen Hand an der Spitze.

Obwohl die Betriebsrechnung für 1964 einen höheren Ertrag als im Vorjahr auswies, nachdem die für die Inbetriebnahme der Petrochemie notwendigen Rückstellungen vorgenommen waren, beantragte der Verwaltungsrat eine Reduktion der Dividende von 8 auf 5 Prozent. Damit war auch die breite Öffentlichkeit über die tatsächliche Lage ins Bild gesetzt.

Lonza hatte einen Prototyp gewählt

Dr. Engi liess klar verlauten, dass die Gründe für die Verzögerung technischer Natur seien, handle es sich bei der Anlage in Lalden doch um die allererste, die nach dem seinerzeit gewählten Verfahren des italienischen Lizenzgebers sukzessive bis anfangs 1964 voll in Betrieb genommen wurde.

Die ersten Schwierigkeiten waren schon 1962 aufgetreten. Basel musste im Geschäftsbericht merklich zurückrudern: «Das für die Erstellung unserer petrochemischen Anlagen vorgesehene zeitliche Programm konnte nicht in allen Teilen eingehalten werden, teils wegen Verzögerungen in der Anlieferung von Apparaturen, teils als Folge des strengen Winters, sodass mit einer gewissen Verzögerung der Inbetriebnahme zu rechnen ist.»

Es hiess aber auch, man sei von Montecatini nicht ausreichend aufgeklärt und als bezahlendes Versuchskaninchen benutzt worden. Lonza habe geglaubt, eine bereits bewährte petrochemische Anlage bestellt zu haben; stattdessen habe das Unternehmen einen unerprobten Prototyp erhalten.

Montecatini war allerdings nicht gleicher Meinung und schickte eine Gruppe italienischer Techniker und Ingenieure nach Visp, um die Anlage flottzubekommen. Von einem reibungslosen Betrieb blieb man jedoch weit entfernt.

Die teure Flamme

Den vor allem in der Endphase heroischen Kampf um die Betriebstüchtigkeit der Anlagen der Petrochemie bekam die Bevölkerung gleich in verschiedener Hinsicht mit: zuerst aufgrund der riesigen, weitherum wahrnehmbaren, wie man munkelte, geldfressenden Flamme, welche die Bevölkerung während Monaten ununterbrochen begleitete und das Tal auch während der Nacht taghell erleuchtete.

Es war wie bei der Papstwahl, aber im umgekehrten Sinn: Solange die Flamme gen Himmel loderte, waren die Versuche noch immer nicht von Erfolg gekrönt. Der Treibstoff verbrannte dann ungenutzt und belastete die Umwelt – und die Finanzen der Lonza.

Auf Dauer konnte auch dem letzten Mitarbeiter nicht mehr verborgen bleiben, in welch kritischer Lage sich seine Arbeitgeberin befand. Bei der Lonza hiess es für einige Zeit: den Gürtel enger schnallen!

Aber auch in der Visper Bevölkerung begann man sich Sorgen zu machen, denn es liess sich ausrechnen, was dies im schlimmsten Fall bedeuten würde.

Lonza nahm Geschick in eigene Hände

Am 1. August 1965 riss Präsident Engi schliesslich der Geduldsfaden und er gab den in Visp eingesetzten Italienern den Laufpass. Lonza nahm damit ihr Geschick in die eigenen Hände. Der mutige und denkwürdige Entscheid wirkte offensichtlich Wunder: Das Unternehmen hatte sich zuversichtlich auf die eigenen Beine gestellt und diese unerwartete Selbsthilfe bekam dem Unternehmen, wie sich nachträglich zeigen sollte, offensichtlich gut.

Visp mit der Lonza im Jahr 1964, als diese auf Erdölverarbeitung umstellte.

ETH-Bibliothek, Fotograf Werner Friedli, LBS_H1-024671

Sie setzten die Anlagen der Petrochemie in Betrieb

Werkseigene Fachleute am Standort Visp mit dem gebürtigen Visper Chemiker Dr. Raymond Perren an der Spitze, der von der Geschäftsleitung von Basel eigens dafür aus der Zentrale ins Wallis zurück delegiert worden war, der in Visp aufgewachsene Chemiker Alfons Egger – später Vizedirektor der Lonza –, Maschineningenieur Erich Widmer, Physiker Hans Schmid und eine Reihe von kompetenten Handwerkern und erfahrenen Hilfskräften des Visper Werks versuchten nun energisch, die Mängel auszumerzen und so die Voraussetzungen für einen reibungslosen Produktionsablauf zu schaffen.

Während mehr als drei Monaten setzte dieser ad hoc zusammengestellte Stab sein ganzes Wissen und die volle Arbeitskraft ein. Oft wurde sogar die Nacht zum Tag gemacht; es waren Zeiten der äussersten Anspannung, aber der Einsatz sollte sich schliesslich lohnen; rund vier Monate später wurde das Team verdientermassen mit dem erhofften Ergebnis belohnt.

Was Montecatini fehlerhaft in Gang gesetzt hatte, wurde Anfang November 1965 abgestellt. Die Anlagen wurden peinlich genau untersucht und wo nötig umgebaut. Bereits im darauffolgenden März konnte die Benzinspaltanlage wieder in Betrieb gesetzt werden, diesmal definitiv. Schon nach vier Wochen bezeichnete man die Ergebnisse als ermutigend.

Sie haben mit ihrem Team in kurzer Zeit zustande gebracht, was die italienischen Lieferanten nicht schafften: das Funktionieren der Benzinspaltanlage der Lonza. V. l. n. r.: Raymond Perren, Hans Schmid, Alfons Egger, Erich Widmer.

Fotos zVg

Eine Glanzleistung des Visper Teams

Das pausenlos tätige Visper Team hatte aus eigener Kraft alle Hindernisse aus dem Weg geräumt und das unmöglich Scheinende geschafft. Mit diesem Erfolg ging auch die jahrzehntelange Phase zu Ende, in der für anspruchsvolle Posten Mitarbeiter von auswärts rekrutiert werden mussten, während die meist ungelernten Walliser vorwiegend für Hilfsarbeiten zum Einsatz kamen.

Jetzt waren auch Walliser, unter ihnen Visper, die studiert und sich so das nötige Werkzeug geholt hatten, zu den qualifizierten Mitarbeitern aufgerückt. Dank ihnen hellte sich nun der Horizont über Visp wieder auf – ohne die fatale Flamme, die zuvor während Monaten angezeigt hatte, dass der Prozess darunter noch nicht zufriedenstellend und gewinnbringend zum Tragen gekommen war.

Hohes Lob für Visp aus der Deutschschweiz

In der gesamten Schweizer Presse gab es viel Lob für die tüchtigen Visper. Die Schweizerische Handelszeitung schrieb am 31. März 1966 über die «Selbsthilfe-Aktion»: «Die Inbetriebnahme stellt eine technische Glanzleistung der Lonza-Techniker dar, die bis zur Regeltechnik auf sich selbst gestellt waren.»

Zur glücklichen, für die Lonza lebenswichtigen Wendung in dieser Krisenlage schrieben die «Basler Nachrichten»: «Das Wissen um die ernsten Schwierigkeiten, in welche das Unternehmen durch das Petrochemie-Abenteuer geraten ist, hat so etwas wie eine Schicksalsgemeinschaft entstehen lassen, die ihr Handeln am Leitsatz ‚Wir lassen uns nicht unterkriegen‘ aufrichtet.

Zu dieser Ausharrbereitschaft gesellt sich heute, besonders bei der Petrochemie-Equipe im Wallis, berechtigter Stolz hinzu. Stolz darüber, dass man aus der lieferseitig verknorzten und schlecht funktionierenden Anlage aus eigenem Vermögen ein Instrument geschmiedet hat, das nun immerhin seit mehr als einem Monat ununterbrochen auf hohen Touren läuft.

In dem Umstand, dass es schliesslich Lonza-Leute selbst waren, welche die Petrochemie zu einem befriedigenden Funktionieren gebracht haben, scheint uns ein Positivum von langfristig hohem Wert zu liegen. Sie sprechen nämlich in Lalden jetzt von ‚ihrer‘ Anlage, sie kennen sie durch und durch (man muss diesen komplizierten Apparatekomplex gesehen haben, um dieses Faktum bewerten zu können), wissen aber auch, dass sie im Falle einer Störung auf sich selbst gestellt sind und fühlen sich deshalb für einen reibungslosen Produktionsablauf unmittelbar verantwortlich.» Und weiter: «Die im vergangenen August erfolgte Übernahme der Petro-Chemie in eigene Regie hat der Gesellschaft den kaum überschätzbaren Vorteil entgegengebracht, heute in Lalden über eine Mannschaft zu verfügen, die ihre Anlage durch und durch kennt und sämtliche Probleme ohne fremde Hilfe zu lösen imstande ist. Dieses Aktivum mag ‚à la longue‘ den negativen Effekt des momentan eingetretenen Mehraufwandes auszugleichen. Alles in allem scheint es aber, dass man im petrochemischen Abenteuer das Schlimmste überstanden hat und es sind deutliche Anzeichen vorhanden, dass sich der Horizont über Visp und Lalden wieder aufhellt.»

Ohne Umstellung hätte Lonza nicht überlebt

Die Lonza des Jahres 1966 war nur noch sehr bedingt vergleichbar mit dem Unternehmen in früheren Zeiten. Fortan produzierte sie aufgrund von Erdöl und Erdgas. Ohne Umstellung auf die Spaltung von Leichtbenzin hätte das Unternehmen eine seiner Hauptaufgaben, die inländische chemische Industrie auch in Zukunft mit Grundstoffen und Zwischenprodukten zu versorgen, nicht mehr erfüllen und seine Position im Markt nicht mehr behaupten können.

Gemäss Aussagen der Verantwortlichen hätte alles andere den Ruin der Lonza im Oberwallis bedeutet. Verwaltungsratspräsident Engi bilanzierte: «Hätten wir vor sechs Jahren nicht den Entschluss gefasst, auf Petrochemie umzustellen, so wären wir – krass ausgedrückt – bereits gestorben. So haben wir wenigstens eine Chance zu überleben.» Lonza hat diese Chance genutzt. Die Umstellung brachte das Unternehmen zu neuer Blüte und garantierte weiterhin dauerhaft zwischen 2 500 und 3 000 Oberwallisern und Oberwalliserinnen sowie deren Familien das Auskommen.

Abenteuer kostete Millionen

Der Schaden, den die Lonza in den Sechzigerjahren wegen des Abenteuers mit der Benzinspaltanlage erlitt, wurde mit über 300 Millionen Franken beziffert. Die erhebliche Überschreitung des Investitionsplafonds – 1959 um 66 Millionen Franken, 1961 um 100 Millionen Franken und 1966 um 140 Millionen Franken – belastete die finanzielle Situation der Lonza, deren Jahresumsatz damals rund 250 Millionen Franken betrug, noch für einige Zeit empfindlich.

1967 konnte die Lonza dann eine beachtliche Entschädigung von 12 Millionen Franken von Montecatini verbuchen, dies für die Folgen von deren Fehlleistungen bei der Inbetriebnahme der Petrochemie in Lalden.

Um die Finanzen dennoch einigermassen im Griff behalten zu können, entschloss sich die Lonza zum Verkauf der vielen Wohnungen, die sie im Lauf der Jahrzehnte in Visp für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebaut hatte. Sie verkaufte die Liegenschaften an die Pensionskasse ihrer eigenen Belegschaft.

Die Lonza 1967.

ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Comet Photo AG Zürich, Com_F67-11109 CC BY-SA 4.0

Gemeindesteuern blieben aus

Noch während Jahren bekamen auch die Visper Gemeindefinanzen die Folgen der Krise zu spüren. Der Beschluss der Lonza, in drei Jahren 140 Millionen Franken abzuschreiben, hatte zur Folge, dass die Gemeinde Visp während dieser Zeit weitgehend auf Gewinnsteuern des Unternehmens zu verzichten hatte.

Einweihung der Laldner Werke

Am 8. Juli 1966 weihte Bischof Nestor Adam die petrochemischen Anlagen der Lonzawerke sowie der Teranol AG, deren Fabrik vor der Fertigstellung stand, feierlich ein. Verwaltungsratspräsident Jürg Engi hiess im Saal des La Poste in Visp die zahlreichen und hochkarätigen Gäste, darunter Bundesrat Roger Bonvin, herzlich willkommen. Anlässlich eines Rundgangs erklärte Vizedirektor Raymond Perren das Funktionieren der Anlagen, die er und seine Visper Equipe zum Laufen gebracht hatten.

[Siehe auch Kapitel 21.02 «Chemiewerk Teranol in Lalden, die wenig bekannte Grösse im Oberwallis».]

Der gebürtige Visper Chemiker Dr. Raymond Perren, der Kopf der Visper Equipe, welche die Benzinspaltanlage zum Laufen brachte. Die Geschäftsleitung hatte ihn eigens dafür aus der Zentrale in Basel ins Wallis delegiert. Der Krisenmanager war der erste Walliser, der in der Lonza-Hierarchie die höchsten Stufen erklomm.

© Armin Karlen

Raymond Perren, erster Visper in der Lonza-Leitung

Raymond Perren war der erste Walliser, der in der Lonza-Hierarchie die höchsten Stufen erklomm. Der Sohn der Visper Familie Perren-Zurkirchen kam nach erfolgreich mit dem Doktorat abgeschlossenem Chemiestudium an der ETH mitten im Krieg zur Lonza in Visp. Hier forschte er mit Hingabe nach neuen Produkten und Verfahren. In der industriellen Produktion stand für ihn immer die praktische Durchführbarkeit im Vordergrund. Schon 1946 wurde er nach Basel berufen.

An der Spitze des Stabs, der die Petrochemie zum Laufen brachte, bewährte sich Perren in den Sechzigerjahren als zuverlässiger Krisenmanager, was seine spätere Karriere bei der Lonza massgeblich beeinflusst haben dürfte. Es folgte die Berufung in die Geschäftsleitung nach Basel, wo ihm die Verantwortung für die konzernweite Produktion übertragen wurde. Zusätzlich übernahm er das technische Büro, wo neue Produktionsanlagen projektiert und realisiert wurden.

Ein weiteres, für das Unternehmen wichtiges Tätigkeitsfeld stellte die Energie dar. So übernahm Raymond Perren in den 70er-Jahren den Energiebereich. Pausenlos bemühte er sich, die erforderliche Energie zu vorteilhaften Bedingungen zu beschaffen, und wurde zu einem Experten der Energiewirtschaft. In mehreren einschlägigen Verwaltungsräten, deren Mitglied er war, fanden seine Voten stets Beachtung.

1978 wurde Raymond Perren als Nachfolger von Jürg Engi in den geschäftsleitenden Ausschuss für den Bereich Chemie des Alusuisse-Konzerns gewählt, dem die Lonza vorübergehend einverleibt war. Nur ein Jahr später vertraute man ihm den gesamten Bereich Energie des Alusuisse-Konzerns an.

Er fand auch noch Zeit, für die gesamte Walliser Wirtschaft tätig zu sein, war er doch während Jahren Präsident der Walliser Handelskammer.
Seinen Lebensabend verbrachte er in Visp, wo er schon 1945 – berufsbedingt nur für ein Jahr – als Vertreter der Demokratischen Partei Vizepräsident der Gemeinde Visp war. Anfang August 2012 starb er im hohen Alter von 95 Jahren.

55 Jahre lang hielt die Lonza ihrem ersten Hauptprodukt, dem Karbid, die Treue und produzierte während dieser Zeit nicht weniger als 1 337 000 Tonnen davon. Das Bild von 1962 zeigt die Karbid-Beschickungsbühne des Lonzawerks Visp. 1972 verschwand Karbid endgültig aus dem Werk, das nun von der Benzinspaltanlage beherrscht wurde.

Fotograf unbekannt, zVg/Raymond Perren

Benzinspaltanlage verdrängte Karbid

Als die Petrochemie lief, hatte Karbid bald ausgedient, nicht zuletzt, weil es energieintensiv war: 1964 wurde der Ofen in Gampel stillgelegt. In Visp fand der letzte Karbidabstich 1972 statt.

Karbid schrieb eines der wichtigsten und längsten Kapitel der bisherigen Geschichte der Lonza; nicht weniger als 75 Jahre lang blieb es aufs Engste mit den Höhen und Tiefen des Werks in Visp verbunden. Es war das Produkt der ersten Stunde der Lonza gewesen, zuerst in Gampel. Vielen Vispern war es ein Begriff, denn das «Wahrzeichen» bestand in einem dauernd aufsteigenden Rauch über dem Werk.

1897 hatten wagemutige Unternehmer die Firma «Elektrizitätswerke Lonza» mit Sitz in Gampel gegründet, um die dort erzeugte Energie für die Fabrikation chemischer und elektrometallurgischer Produkte nutzbar zu machen und Karbid zu erzeugen. Bis 1905 hatte man Karbid ausschliesslich zu Beleuchtungszwecken verwendet. Eine geradezu stürmische Entwicklung, besonders die Einführung des Wechselstroms, entschied dann zugunsten des elektrischen Lichts. Das führte zur ersten bedeutenden Absatzkrise beim Karbid. Bedingt durch eine gewaltige Nachfrage kam es während des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang mit der Produktion von Karbid zu zahlreichen Erweiterungen und Firmengründungen. Das löste bei Kriegsende einen katastrophalen Zusammenbruch des Absatzes aus.

Die Lonza hatte die Suche nach Folgeprodukten schon vor dem Krieg intensiviert. Da war vorerst die Aufnahme der Kalkstickstoff-Produktion in Gampel und dann in Visp. In den 20er- und 30er-Jahren blieb es bei einer eher mässigen Produktion, hauptsächlich von Lösungsmitteln für den inländischen Markt. In die gleiche Zeit fiel dann auch die Aufnahme der Fabrikation von festem Brennstoff, allgemein bekannt unter der Bezeichnung «Meta».

Mit der Rohstoffverknappung zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erwuchsen auch der Lonza neue Aufgaben. Das eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement beauftragte sie mit der Herstellung von Ersatztreibstoffen. Auch der Mangel an Kautschukprodukten gab der Lonza eine neue Entwicklungsrichtung vor. So begann sie schon 1941 mit der Vinylchlorid-Produktion aus Acetylen, Chlor und Wasserstoff. Nach Kriegsende kam es diesmal nicht zu einer Schrumpfung des Absatzes. Im Gegenteil: Es fand eine derart schnelle Entwicklung der organischen Chemie statt, dass die Kapazität der bestehenden Karbidöfen nicht mehr ausreichte. Ende der 50er-Jahre stieg der Bedarf an Karbid weiter an und erreichte gar das Sechsfache des Wertes der Zwischenkriegszeit.

Das stellte die Lonza vor die Frage: Sollte ein weiterer Karbidofen aufgestellt werden oder sollten die Grundstoffe auf einer anderen Basis beschafft werden? Das Unternehmen musste einen zukunftsweisenden Entscheid treffen. Die Verfeinerung der Ofentechnik während fünf Jahrzehnten erlaubte es, die Karbid-Ausbeute von 3,5 Kilogramm pro Kilowattstunde und Tag auf 7 Kilogramm zu verdoppeln. Im gleichen Zeitraum sank der Verbrauch an Kohle für eine Tonne Handelskarbid von 1 100 auf 650 Kilogramm.

Die ständig steigenden Kosten für Rohmaterial, Energie und Löhne bei der Karbid-Fabrikation entschieden schliesslich zugunsten der Benzinspaltanlage, die ab 1966 die Versorgung mit Acetylen, Ethylen, Wasserstoff und anderem mehr übernahm.

Tatsächlich brachte die Inbetriebnahme der Benzinspaltanlage in Lalden 1966 eine Wende hinsichtlich der stets steigenden Nachfrage nach elektrischer Energie für die chemischen Werke; diese verminderte sich gegenüber der energieintensiven Produktion von Karbid und Wasserstoff wesentlich. Die Umstellung auf Petrochemie in den Lonzawerken hatte zur Folge, dass ab 1966 ein Drittel weniger Energie benötigt wurde als in den Jahren davor.

[Siehe auch Kapitel 17.01 «So kam die Lonza ins Wallis – und schliesslich nach Visp» und Kapitel 19.14 «Lonza lieferte in den Kriegsjahren Strom, Benzinersatz, Dünger»]

 

Die Acetylen-Waschanlage in Lalden im Jahr 1965.

Fotograf unbekannt, zVg/Raymond Perren

Strom trug 10 Prozent zum Lonzagewinn bei

Als in der Lonza Visp 1966 die Petrochemie in Betrieb ging, hielt die Schweizerische Handelszeitung fest, die verschiedenen Lonza-Kraftwerke steuerten einen Anteil von 10 Prozent an die Ertragszahlen des Unternehmens bei. Die Gesellschaft sei nicht nur günstiger Selbstversorger, sondern exportiere sogar Strom.

Lonza auch in den USA

Mit dem Erwerb der US-Firma BAIRD Chemicals, Fair Lawn in New Jersey, fasste die Lonza AG 1969 auch in Übersee Fuss.

Die Liegenschaft des 1887 erstellten früheren Hotels «des Alpes» beim Bahnhof ging 1961 an die Personalunterstützungskasse der Lonza über. 1917 hatten sie Anton und Prosper In Albon mit einer Reihe von Ökonomiegebäuden an die Elektrizitätswerke Lonza verkauft. 

Aus dem Fundus der ehemaligen Druckerei Mengis.

Werk Visp erhielt Forschungszentrum

Nachdem die Anlagen der Petrochemie nun definitiv eingefahren waren, fasste der Verwaltungsrat der Lonza AG 1967 den Beschluss, im Werk Visp eine mit allen Attributen der modernen Technik ausgestattete zentrale Forschungsstätte der Departementssparte Chemie zu errichten. Drei Jahre später, 1970, konnte das neue Zentrum eingeweiht werden.

Landesbehörde besuchte Lonza in corpore

Am 3. Juli 1967 stattete der Gesamtbundesrat der Lonza AG einen Besuch ab, welcher die Bedeutung dieser Werke auch für Bundesbern unterstrich. Lonza-Direktor Dr. Raymond Perren begrüsste die Bundesräte Rudolf Gnägi, Hans-Peter Tschudi, Ludwig von Moos, Nello Celio und Roger Bonvin.

Lonza schuf Sozialberatungsstelle

1967 beauftragte die Lonza AG den Schweizer Verband Volksdienst, für die Werksangehörigen und deren Familien eine Sozialberatungsstelle einzurichten und zu führen.

10 Hektaren gemeinsamer Boden für Lonza

In einem Gemeinschaftswerk der Burgerschaft, der Gemeinde, der Lonza sowie vieler Visper Burgerfamilien konnte der Lonza AG 1967 ein Entwicklungsgebiet von über 10 Hektaren Boden im Grossgrund zur Verfügung gestellt werden.

Generalversammlung in Visp

Die ordentliche Generalversammlung der Lonza-Aktionäre von 1970 fand am 25. März im La Poste-Saal in Visp statt.

Publikumsumfrage: Was fabriziert Lonza?

1970 führte die Lonza AG eine Umfrage durch. Diese ergab, dass 58 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer in der Lonza noch immer eine Düngerfabrik sahen und 21 Prozent überhaupt nichts über das Unternehmen wussten. Nur gerade 12 Prozent hatten überhaupt eine Ahnung davon.

Da entschloss sich der Verwaltungsrat zu einer intensiven Imagewerbung. So wurde der «Lonzer» geboren, gewissermassen als Symbol für die im modernen Industrieunternehmen im Mittelpunkt stehenden Menschen und Mitarbeitenden.

Langsam gelang es so, das einseitige Bild von der Düngerfabrik, das sich vor allem während des Zweiten Weltkriegs bei der Schweizer Bevölkerung verfestigt hatte, zu korrigieren und den Goodwill zu schaffen, welcher der Lonza auf den Absatz-, Personal- und Finanzmärkten zugutekommen sollte.

Der Luchs zierte während Jahrzehnten das Logo der Lonza.

© Lonza History Webseite

Luchs wurde als Signet abgelöst

1970 musste der Luchs, welcher der Lonza bis anhin als Signet auf den ersten Produkten gedient hatte, einem moderneren Werbekonzept weichen. Auf unzähligen Düngersäcken hatte der Lonza-Luchs den Weg bis in den hintersten Winkel der Schweiz gefunden.

Der Luchs war lange Zeit im Lötschental heimisch gewesen. Es gab sogar Vermutungen, wonach das Wort «Lonza» dem keltischen Wort für Luchs entspreche.

Lonza verdiente wie noch nie

Die «Basler Nachrichten» blickten am 27. Februar 1970 auf ein überaus erfolgreiches Geschäftsjahr der Lonza zurück. Die Konzernverkäufe waren um 21 Prozent (352 Millionen Franken) gestiegen. Der Reingewinn belief sich auf 8,268 Millionen Franken (im Jahr zuvor 6,323 Millionen Franken). Zusammen mit dem Vortrag aus alter Rechnung standen mehr als 10 Millionen Franken zur Verfügung der Generalversammlung. Auf Antrag des Verwaltungsrats wurde beschlossen, für 1969 eine Dividende von 40 Franken (Vorjahr 30 Franken) auszurichten und 1,5 Millionen Franken der Wohlfahrtsstiftung zuzuweisen.

Was stellte die Lonza her?

Im Verlauf der ersten 60 Jahre des Bestehens des Visper Werks wurden folgende Produkte in Fabrikation genommen:

  • Kalciumkarbid, ab 1897 in Gampel, ab 1917 in Visp
  • Acetaldehyd/Essigsäure/Kalkstickstoff, ab 1915
  • Ammoniak/Salpetersäure/Ammonsalpeter, ab 1925
  • Komplex-Dünger, ab 1930
  • Diketen/Pyridin/Blausäure, 1950 bis 1970
  • Inbetriebnahme der Benzinspaltanlage: 1966

Jürg Engi, Verwaltungsratspräsident der Lonza AG (1964–1980), wurde zum Ehrenpräsidenten der Lonza AG und zum Ehrenburger von Visp ernannt.

zVg

Ehrenburger dank Weitblick für die Lonza

Von 1964 bis 1980 war Jürg Engi Verwaltungsratspräsident der Lonza AG. Während den 16 Jahren seiner aktiven Tätigkeit beeinflusste er die Entwicklung und den Fortschritt des Unternehmens entscheidend. Als weitsichtiger, innovativer Unternehmer setzte er die Umstellung der Lonza AG in Visp von der Ära der Karbidchemie zur Petrochemie durch. Er setzte auch den Grundstein zur Erschliessung der amerikanischen Märkte, indem er dort eine Chemiefirma kaufte. Im Sinn der Zukunftssicherung der Lonza AG leitete er die Zusammenführung mit der Alusuisse in die Wege. In Würdigung dieser Verdienste ernannte ihn die Lonza AG bei seinem Rücktritt zum Ehrenpräsidenten.

In Anerkennung seiner Verdienste um die grösste Industrie im Oberwallis und seinen Einsatz dafür wurde er im 75. Jubiläumsjahr der Lonza (1972) zum Ehrenburger von Visp ernannt.