Kapitel Nr.
Kapitel 12.01

Visper in der «unabhängigen Republik Wallis», losgelöst von der Schweiz

Bis 1798 hatte es die alte Republik Wallis mit dem Bischof gegeben, der seit 999 als absoluter Herrscher regiert hatte, mit den sieben oberen Zenden und deren Untertanen, dem Unterwallis. Danach hatte das Wallis innert weniger Jahre verschiedene staatsrechtliche Formen und unterschiedliche Zugehörigkeiten: Es war Teil der Helvetischen Republik. Es war ein unabhängiger Staat, von Frankreich bevormundet. Es war Teil von Frankreich und 1815 wurde es endgültig ein Kanton der Schweiz.

Zwischen 1798 und 1815 wechselte das Wallis mehrmals die Staatszugehörigkeit.

© Peter Salzmann

Wallis in der Helvetischen Republik

Mit der Besetzung der Schweiz durch die französischen Truppen 1798 hatten die eidgenössischen Orte ihre über Jahrhunderte gewahrte Unabhängigkeit verloren. Das Wallis wurde Teil der Helvetischen Republik, einer repräsentativ-zentralistischen Demokratie, die anstelle der ständestaatlich-föderalistischen Schweiz trat.

Davor war im Wallis eine Art «nationales» Selbstbewusstsein entstanden, gestärkt in mutigen Freiheitskämpfen für die alte Landschaft Wallis. Für diesen alten Staat hatten die Landleute ihr Land gegen Angreifer aus Savoyen und Bern geschützt und ihre Rechte gegen den bischöflichen Landesherrn geltend gemacht.

«République du Valais» war Satellitenstaat Frankreichs

Das Interesse Napoleons an den Alpenübergängen Grosser St. Bernhard und Simplon bewog ihn dazu, das Wallis aus der Helvetischen Republik herauszulösen. Die helvetische Behörde willigte 1802 in die Ablösung des Wallis von der Helvetik ein. Für ihre Zustimmung zur Abspaltung des Wallis erhielt die helvetische Republik das österreichische Fricktal. Im gleichen Jahr wurde das Wallis wieder aus der Eidgenossenschaft herausgelöst und am 5. September 1802 in Sitten feierlich – pro forma – für unabhängig erklärt. Damit war das Wallis nach langwierigen Verhandlungen von der Schweiz getrennt.

Dieser Entscheid schmeichelte dem Stolz der Walliser. Der neu gewählte, aber stets umstrittene Landeshauptmann Anton de Augustini wurde daher nicht müde, den «grossen Korsen» mit Dankbarkeit und Lob zu überhäufen. Taktisch mag das nicht falsch gewesen sein. Der Landeshauptmann war Staatschef der neuen Republik und zugleich ihr Regierungspräsident.

Die Walliser Regierung fand sich mit der effektiven Rolle eines französischen Satelliten mühelos ab. Sie sah in Napoleon den Wiederhersteller der Republik Wallis und nannte ihn im Gesetz vom 28. Oktober 1802 «Restaurator der Unabhängigkeit des Wallis».

Das Wallis wurde dem Schein nach eine selbstständige «rhodanische» Republik und fristete als solche ein Schattendasein, denn trotz seiner «Unabhängigkeit» war es ein Satellit Frankreichs, das sich das Recht vorbehielt, die Strasse über den Simplon frei zu benutzen. Dies war denn auch der Hauptgrund für die Bildung einer eigenen Republik Wallis gewesen. Faktisch wurde die Republik Wallis von Paris aus gelenkt und von dort aus sehr unselbstständig gehalten, wobei dies für die Bevölkerung nicht die unglücklichste Zeit war. Die Republik umfasste zwölf Zenden: die sieben bisherigen sowie Hérémence, Martigny, Entremont, Saint-Maurice und Monthey.

Verfassungskämpfe

Von 1802 bis 1810 fanden im Wallis wie in der übrigen Schweiz Verfassungskämpfe statt, ohne dass diese zu einem guten Ende führten.

Bis zum 19. Jahrhundert waren der Bischof, später auch der Landrat, die Verfassungsorgane. Die französische Revolution und der folgende Einfall französischer Truppen ins Wallis blieben auch diesbezüglich nicht ohne Folgen. So machte die Verfassung vom 30. August 1802 aus dem Wallis «eine ein- und unteilbare Republik, die unter dem Schutz der helvetischen, französischen und italienischen Republik steht.» So lautete der Artikel 2 derselben.

Der Landrat und ein ständiger dreiköpfiger Staatsrat regierten das Land, wobei der Landrat im Proporz von den Zenden gewählt wurde. Die Macht der Burgerschaften war wiederhergestellt. Nach der kurzen Zeit als Departement Frankreichs wollten die sieben alten Zenden und der Bischof zu ihren ursprünglichen Vorrechten und zum Föderalismus der Zenden zurückkehren.

Zeichnung des Engländers Samuel Prout (1783–1852): «Visp or Viege near Brigg», nach 1815, Graphit und weisse Kreide auf grauem Velinpapier.

Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection, B1975.3.1073. Public Domain

Vielfältige Zuständigkeiten des Gemeindepräsidenten

1802, zu Beginn der unabhängigen Republik Wallis, in der die Franzosen das Sagen hatten, wurde die Führung der Gemeinde vorübergehend anders geordnet, neu mit einem Gemeinderat und mit dem Gemeindepräsidenten an der Spitze. Die Munizipalität hatte sich bereits in der Helvetik abgezeichnet. 

Das Gemeindeoberhaupt musste die Gesetze und Verwaltungsverordnungen vollziehen, die ihm der Zendenratspräsident übertragen hatte.

Unter anderem musste der Gemeindepräsident die Schwangerschaftsanzeigen von ledigen Frauen entgegennehmen. Gemäss Gesetz wurde dabei den Angaben der Schwangeren Glauben geschenkt, wenn sie diese bis zum 6. Monat abgaben und unter Eid bei den Geburtswehen wiederholten. Bedingung war noch, dass sie sich gegen einen unverheirateten Mann richteten; der Angegebene musste dann für das Kind aufkommen.

Der Gemeindepräsident amtete bei Beschimpfungen als Friedensrichter. Er war zu diesem Zweck von zwei «redlichen und anständigen Männern» verbeiständet.

In dringenden Fällen konnte der Gemeindepräsident sogar über die wehrfähige Mannschaft, d.h. alle Soldaten in der Gemeinde, verfügen; früher war dies in der Kompetenz des Bannerherrn gewesen.

Auch die von fremden Werbern angeworbenen Söldner mussten dem Präsidenten eine Erklärung abgeben, wonach sie aus freien Stücken angenommen hatten.

Die Wirte hatten jeden Morgen zu melden, wer über Nacht bei ihnen gewesen war. So wollte man verhindern, dass fahnenflüchtige Franzosen oder Italiener im Wallis Unterschlupf fanden.

Um sich nicht verhasst zu machen

Staatseinnehmer Andenmatten aus Visp berichtete am 12. Juli 1803 an den Staatsrat, die Gemeinderäte seien nicht dazu zu bewegen, die Handänderungen im Dorf anzuzeigen, dies um sich nicht verhasst zu machen. Dem Staat entgehe so eine wichtige Einnahmequelle. Anfangs 1804 wurde festgestellt, dass sich diese Einnahmen in den vorangegangenen zwei Monaten lediglich auf 61 Franken beliefen.

Einfuhr von Bier verboten

Die Abgeordneten der Republik Wallis erliessen am 6. November 1802 ein Gesetz, das die Einfuhr von Bier untersagte – dies in Anbetracht dessen, dass das Bier in diesem Land, in dem es Wein im Überfluss gab, ein ungewöhnliches Getränk sei. Weil es schädlich sei, dieses Getränk einzubringen, wurde der Verkauf von Bier auf dem Boden der Republik verboten, und zwar unter Strafe der Konfiskation und 100 Franken für das erste, 200 Franken für das zweite Mal, wovon ein Drittel für den «Angeber» sei.

Augustini durfte nicht Burgeners Schwiegersohn werden

Der spätere Landeshauptmann Anton de Augustini wurde 1743 im Dörfchen «Zerr Tanna», das zur Pfarrei Macugnaga gehörte, geboren; sein Vater war Italiener. Als 16-Jähriger hatte er das Ziel Priester zu werden und begann mit der Schule. Gleichzeitig unterrichtete er die Söhne der Witwe Maria Josepha de Chastonay in Naters. Die damals 43-jährige Witwe verliebte sich in den 16-Jährigen, bis ihr Schwager der Liebesaffäre nach zwei Jahren ein Ende setzte.

Was hat das mit Visp zu tun? Augustini verliebte sich in die 13 Jahre ältere Sara Burgener, Tochter des Visper Landeshauptmanns Franz Josef Burgener; die beiden versprachen sich die Ehe. Das Ziel Priester zu werden gab er auf. Zweifellos verfolgte er mit der beabsichtigten Heirat auch pragmatische Ziele: Durch die Ehe mit der Tochter einer angesehenen Familie wäre er in den Kreis der regimentsfähigen Familien gelangt und hätte seine gesellschaftliche Stellung verbessert.

Um sich verheiraten zu können, musste er sich jedoch eine Existenzgrundlage schaffen und so wählte er den Solddienst im Regiment de Courten in Frankreich. Saras Vater aber betrachtete eine allfällige Heirat seiner Tochter mit dem unvermögenden Augustini als eine Mesalliance, die es mit allen Mitteln zu verhindern galt. Auch dieses Beispiel zeigt: Die regierenden Familien im Wallis des 18. und 19. Jahrhunderts betrieben eine eigentliche Heiratspolitik mit dem Ziel, ihre Herrschaft zu festigen und neue Verbindungen zu einflussreichen Familien zu knüpfen.

Schliesslich war Augustini einverstanden damit, das Eheversprechen aufzulösen, nachdem ihm Burgener versprochen hatte, ihn ins freie obere Landrecht aufzunehmen. Der Visper hielt jedoch sein Versprechen nicht und so erkaufte sich der 24-jährige Augustini dieses Recht. Dank einer regelrecht abenteuerlichen Karriere erreichte er seine politischen Ziele dennoch und wurde von 1802 bis 1807 Landeshauptmann der Republik Wallis. Seine Wahl im Jahr 1802 war umstritten. Er wurde mit 14 Stimmen gewählt, Charles Emanuel de Rivaz erhielt 9, Kaspar Eugen Stockalper 3 Stimmen. Für Augustini stimmte auch der Visper Vertreter Joseph Andenmatten.

Wieder Ruhe in der Burgschaft Visp

In der Burgschaft Visp begann das normale Leben wieder einzukehren. So wurde dem Hengsthalter am 2. April 1803 verboten, den Hengst für schwere Arbeit zu missbrauchen. Obst- und Gartendiebe sollten im Wiederholungsfall streng bestraft werden. An Fronleichnam hatte das Militär den alten Satzungen entsprechend zu erscheinen.

Wie bei Rubens

Als der Tübinger Gymnasiallehrer Christian Gottlieb Hölder 1803 die Republik Wallis bereiste, schrieb er: «Die Bewohner des obern Teils sind schöne Leute und gleichen den Bergbewohnern des Cantons Bern. Die Weiber sind ebenfalls schön und sehr weiss (…) ihr stämmiger Wuchs macht sie eher den Liebesgöttinnen von Rubens als der Venus des Praxiteles ähnlich.»

Schützenzunft wieder aktiv

Da die Schützenzunft Visp während den Kriegsjahren – seit 1798 – stillgelegt war, beschloss der Burgerrat am 3. Mai 1804 sie gemäss den alten Satzungen wieder in ihr Recht zu stellen.

Die Heuvorräte entschieden

Das Wallis als Aufzuchtgebiet verbot 1803 die Einfuhr von Vieh. Als 1806 die Heuvorräte besonders gross waren, wurde das Verbot gelockert.

Burgerrat tagte 1804 wieder

Am 1. Mai 1804, als das Wallis unabhängige Republik war, konnte erstmals wieder der Visper Burgerrat zusammenkommen, um «die zerbrochenen Scheiben aufzulesen» und sich neue Behörden zu geben.
Neben Burgermeister Franz-Joseph Andenmatten, der nun «Président» genannt wurde, traten auch Familiaris Zurkirchen, Franz Bilgischer und Joseph Lochmatter und Peter Joseph Kalbermatten in den Rat ein.

Das politische Gewicht der Burgerversammlung

Erstmals tauchte 1804 der «Kleine Rat» als Gemeinderat auf. Am Ende der Burgerwoche 1805 schritt der Kleine Rat zur Wahl in die Ämter (Vögte) und fasste verschiedene Beschlüsse, welche sodann der allgemeinen Burgerversammlung vorgelegt wurden.

Das Gleiche geschah auch in der Burgerwoche 1806, als der Kleine Rat verschiedene Anträge an die Burgerversammlung beschloss und dieser zur Genehmigung unterbreitete.

Die Abdankung der Konsule wurde zuerst dem Kleinen Rat vorgetragen. An diesen gingen auch die Vorschläge für die Nachfolge. Erst anschliessend folgte der Rücktritt vor dem Burgerrat. Die nicht in Vorschlag gebrachten Mitglieder des inneren («Kleinen») Rats eröffneten den versammelten Burgern ihre Wahlvorschläge.

Der abtretende Konsul nannte jeweils aus jedem Drittel der Burgschaft und aus dem Schoss des Kleinen Rats einen möglichen Nachfolger. Der Kleine Rat traf dann die Wahl aus diesem Dreiervorschlag und bestellte auch die übrigen Dorfbeamten, alles unter Vorbehalt der Genehmigung durch die Burgerversammlung. Das politische Gewicht hatte sich offensichtlich auf die Burgerversammlung verschoben.

[Siehe auch Kapitel 12.04 «Die Sorgen der Visper Burger in napoleonischer Zeit».]

Gemeinde kam für Militärunterkunft auf

Der Präfekt bevollmächtigte den «Maire de Viège» am 20. Juli 1807, den Mietzins der Logements, die den Militärs überlassen wurden, einstweilen aus dem Gemeindesäckel zu zahlen.

Visper baute Brücke in Stalden

Im Jahr 1806 baute der Visper Unternehmer Baptist Viotti im Auftrag des Département du Simplonberg, also der Franzosen, die Staldnerbrücke.
Die Zahlung liess jedoch auf sich warten. Zendenratspräsident Lang schrieb am 26. September 1806 an den Landeshauptmann, dass Herr Viotti aus der Staatskasse zu entschädigen sei. Der Zenden Visp und die Gemeinde Stalden würden sich weigern, das zu tun.

Nach dem Sturz Napoleons wollte sich Viotti erneut an die Gemeinde Stalden halten, welche aber die Zahlung verweigerte.

«Man fabrizierte nichts im Wallis»

Nach der Eröffnung der Route Napoleon über den Simplon 1805 erstattete Joseph Eschassériaux, napoleonischer Geschäftsträger im Wallis, Bericht: «Die Existenz des Walliser Volkes teilte sich zwischen dem landwirtschaftlichen Leben und dem pastoralen Leben. Man fabrizierte nichts im Wallis, man fertigte nichts an. Eingeschlossen in einem – engen – Kreis seiner Bedürfnisse wirft der Walliser kein sehr süchtiges Auge auf den Reichtum der Industrie und des Luxus, welche in anderen Gegenden Europas zirkulieren. Die Geschichte des 14. Jahrhunderts ist für ihn noch die Geschichte der Gegenwart. Die Linien des nationalen Charakters sind noch dieselben und die Zeit, die seit dieser Epoque vergangen ist, signalisiert absolut keine Änderung in der moralischen Existenz, keine Verbesserung in seinem wirtschaftspolitischen System.»

Das verschlossenste Land Europas

1806 schrieb Joseph Eschassériaux, der Gesandte der französischen Besatzungsmacht in Sitten: «Das Wallis ist wahrscheinlich das verschlossenste und an Verkehrsmitteln ärmste Land Europas.»

Kantonaler Finanzchef brauchte Bürgen

Eine Bürgschaft vorweisen – diese besondere Bedingung für die Übernahme des Regierungsamts musste 1808 jener Staatsrat erfüllen, der das Finanzamt übernehmen musste. Der Bürge musste dem Landrat ebenfalls genehm sein. Fast immer wurde hierfür ein einflussreicher Mann der Republik gewählt.

Für den Finanzchef – nicht zu vergleichen mit den späteren Staatsräten – leistete diese Bürgschaft dessen Bruder, der Zendenratspräsident von Visp war. Das war mehr als 60 Jahre vor dem Konkurs der ersten Kantonalbank.

Kostspieliger Bischofsbesuch in Visp

Bei der Visitaz von 1809 stieg Bischof Josef de Preux im vornehmen Burgener-Haus am Martiniplatz ab. Der Familie Burgener wurde als Entgelt die «Burgerbschwardt» für 1810 erlassen.

Die übrige «Zeche» verteilte man im Voraus wie folgt: Die Vorsteher der Burgerschaft sollten dem gnädigen Herrn samt einem Detachement Militär bis an die Marchen der Pfarrei entgegengehen. Der Burgerratsschreiber sollte den Oberhirten im Namen der Pfarrei empfangen und «beneventieren».

Während des Aufenthalts des Bischofs sollte das Militär unter den Waffen verbleiben und ihn bei der Abreise samt dem Vorsteher bis an die Grenzen der Pfarrei begleiten. Die «diesgefälligen» Kosten sollten einem alten Brauch entsprechend auch von den Pfarrgenossen von Unterstalden und Albenried gemäss ihrem Anteil mitgetragen werden.

Die Kosten für das Militär hatten die Gemeinden zu tragen, welche Soldaten stellten. Das «Trinkgeld in der Küche» wurde ebenfalls von den Gemeinden bezahlt.

Aus Bayern geflüchtete Patres in der Pflanzetta

1807 erlaubte die Kantonsregierung der Kongregation S. S. Salvatori ihren Hauptsitz für ein Jahr in Visp aufzuschlagen. Diese Kongregation war aus dem Königreich Bayern und später aus Chur ausgewiesen worden. Die Patres wurden in der Pflanzetta untergebracht und ein Jahr später wurde ihnen bis auf Weiteres die Pfründe der Kaplanei und des Rektorats übertragen.