Wenn Geschichtsschreiber annehmen, dass sich die früheren Bewohner des Wallis einheimischen Dynastien unterstellten – aus dem Bedürfnis heraus, gegen feindliche Sippen, mächtige Herren und düstere Dämonen besser geschützt zu sein –, dürfte wohl eher das Gegenteil der Fall gewesen sein: nicht der Adel, sondern der Bischof erhielt die Macht.
Wallis wurde bischöfliche Grafschaft
Im Jahr 999, also noch im ersten Jahrtausend nach Christi Geburt, schenkte König Rudolf III. von Burgund dem damaligen Bischof Hugo des Bistums Sitten und seinen Nachfolgern die Grafschaft im Wallis zu Lehen, mit allen wesentlichen, auch weltlichen Herrschaftsrechten. Rudolf III. war der letzte König von Hochburgund; er hatte gegen den machthungrigen Adel einen schweren Stand. Deshalb erhob er zur Festigung seiner Herrschaft burgundische Bischöfe zu weltlichen Fürsten. Der Grund war, dass diese keine Familien und damit auch keine Dynastien begründen und somit ihr Amt nicht vererben konnten.
Der Kern der Schenkungsurkunde lautete: «Wir [König Rudolf] schenken die gesamte Grafschaft Wallis mit all ihren Nutzniessungen, welche rechtlich und gesetzlich gemäss den alten und neuen Bestimmungen zu dieser Grafschaft gehören – wie unsere Getreuen bisher von uns und unserem Vater damit belehnt worden sind – der heiligen Maria und dem heiligen Theodul von Sitten, durch dessen Bemühen sie zuerst erworben wurde, und wir ermächtigen den gegenwärtigen Bischof Hugo, sie innezuhaben und seinen Nachfolgern zu überlassen, und zwar so, dass sie nicht bevollmächtigt sind, sie der Kirche Gottes und der heiligen Maria zu entfremden.»
Die Schenkung der Grafschaft Wallis an Bischof Hugo von Sitten ist der massgebende Rechtstitel, auf den sich die Kirche von Sitten inskünftig für ihre weltliche Oberhoheit berufen konnte und musste. Den Besitz der öffentlichen Macht, der Souveränität über das gesamte Gebiet vom Kreuz von Ottans unterhalb von Martigny bis zur Furka erhielt sie durch die vorgenannte Urkunde.
Visper Graf huldigte Bischof
Im Jahre 1140 soll Johann, Graf von Visp, dem Bischof von Sitten gehuldigt haben.
Die Edlen von Saillon hatten Besitz in Visp
Zu den vornehmsten Familien des Landes gehörten im 12. und 13. Jahrhundert die Edlen von Saillon, deren sehr zerstreute Güter sich über das ganze Tal hinauf bis Visp erstreckten.
Bischof als weltlicher Landesherr
Bereits in karolingischer und burgundischer Zeit hatte eine Grafschaft Wallis (comitatus Vallensis) existiert. Mit der königlichen Schenkung an der Schwelle zum zweiten Jahrtausend wurde der Bischof auch weltlicher Landesherr. Als solcher übte er im Tal des Rottens durch Viztümer und Meier die höchste weltliche Macht aus. Das Wallis erhielt einen regierenden Fürsten. Als der Bischof neu Graf des Wallis geworden war, wurden auch die Visper seine Untergebenen.
Weitere Besitzer grosser Territorien im Wallis waren zu dieser Zeit die Abtei von Saint-Maurice, die Grafen von Savoyen sowie das Domkapitel, welches aber seinerseits direkt dem Bischof unterstand.
Welche Bedeutung hatte die Schenkung?
Doch wie verhielt es sich mit den eigentlichen Machtbefugnissen, die mit dieser Schenkung verbunden waren? Der Bischof erhielt die Grafschaft (Wallis) mit allen «Nutzniessungen», das heisst: Er verfügte nun über alle der königlichen Gewalt zustehenden Rechte mit den entsprechenden Einkünften, Regalien genannt. Das wichtigste Regalienrecht war die Grafschaft an sich, das heisst die Landeshoheit über ein ganz bestimmtes abgegrenztes Gebiet.
Im feudalistisch geordneten Staat des Mittelalters bedeutete Landeshoheit in erster Linie Verfügungsrecht über die hohe Gerichtsbarkeit und dies eben nicht nur auf dem Grundbesitz, sondern im ganzen Umfang der Grafschaft. Der Bischof war oberster Richter und entschied in letzter Instanz. Ebenso stand ihm die Ausübung des Blutbanns zu, die Befugnis, die Todesstrafe zu verhängen.
Zur Oberhoheit gehörte auch das Recht, Aufgebote zu erlassen und im Krieg die militärische Führung, Heerbann genannt, innezuhaben. Im Wallis übte der Bischof diese Funktionen nicht selber aus. Er überliess dies Beamten, dem Landesrichter und dem Landvogt als oberste Beamte des Landesherrn.
Zölibat erst tausend Jahre alt
Die theologische Idee der Ehelosigkeit der Priester beziehungsweise ihrer völligen sexuellen Enthaltsamkeit stiess im 11. Jahrhundert auf dem Land nicht auf Verständnis. Es heisst, das Interesse der Kirche an der Ehelosigkeit habe nicht so sehr auf Glaubensfragen, sondern auf einem weitaus praktischeren Grund beruht: Man wollte verhindern, dass das Kirchengut allenfalls für die Versorgung der Kinder von Priestern dezimiert wurde.
Weltliche Gerichtsbarkeit
Zur Ausübung der weltlichen Gerichtsbarkeit und zur Verwaltung des ausgedehnten Grundbesitzes ernannte der Bischof an verschiedenen Orten seiner Grafschaft, so auch in Visp, Beamte weltlichen Standes wie Viztum, Meier, Weibel und Mechtral; diese werden in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts greifbar.
Der Meier, der im 13. Jahrhundert noch vorwiegend Wirtschaftsbeamter war und insbesondere für die Eintreibung der Abgaben zugunsten des Bischofs zu sorgen hatte, ist vor 1250 nachgewiesen. Schon früh verfügte er wohl auch über niedergerichtliche Kompetenzen. Mit dem beginnenden 14. Jahrhundert gelang es ihm, den Einfluss des eigentlich höher gestellten Viztums immer mehr zurückzudrängen; dessen richterliche Zuständigkeit beschränkte er in Visp ab 1314 auf die Monate Mai und Oktober sowie auf den Tag des St. Laurentius-Markts.
Eid auf Besitz ersparte Militärdienst
Vielfach waren die freien Bauern für gewisse Parzellen ihrer Güter Lehensleute des Bischofs. Sie zogen es oft auch vor, für ihren Privatbesitz den Lehenseid zu leisten, da sie sich damit dem Militärdienst entziehen konnten, den alle Freien, nicht aber die Hörigen, zu leisten hatten.
Grundgüter zugunsten Domkapitel
Wahrscheinlich um die Mitte des 11. Jahrhunderts trat der Fürstbischof von Sitten einen bedeutenden Teil seines grundrechtlichen Besitzes – auch aus der Pfarrei Visp – an das Domkapitel in Sitten ab, welches davon noch während Jahrhunderten profitierte.
Zugehörigkeit zum Deutschen Reich
1032 wurde das Wallis an das Heilige Römische Reich angegliedert: Rudolf III. von Hochburgund, der ohne rechtmässigen Erben geblieben war, schenkte das Wallis kurz vor seinem Tod im Jahr 1032 dem Kaiser. Der Bischof von Sitten wurde damit ein Reichsfürst und unterstand fortan direkt dem Kaiser; das Fürstbistum Sitten wurde reichsunmittelbar. Gleichzeitig begannen die Grafen von Savoyen Einfluss zu nehmen.
Visp Viztum des Bischofs
Bis zum Ende des 11. Jahrhunderts müssen sich die Dinge im Wallis auffallend verändert haben. Inzwischen verfügte der Bischof schon nicht mehr über den vollen Besitz der ihm von Rudolf III. übertragenen Grafschaft, obwohl die gräfliche Gewalt über das Tal des Rottens selbst immer beim Bischof von Sitten geblieben war. Es gelang jedoch Graf Humbert von Savoyen, 1037 seinen Sohn Aimo auf den bischöflichen Stuhl von Sitten zu befördern.
Damit geriet das Wallis, besonders das untere, in eine verhängnisvolle Abhängigkeit von Savoyen. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts war das Tal unterhalb der Morse bei Gundis zumeist savoyisches Eigentum. Der Grundbesitz des Bischofs beschränkte sich dort nur noch auf die Herrschaften von Martigny, Chamoson und Ardon.
Im Oberwallis blieb der Bischof Hauptgrundbesitzer. Ihm gehörten die bedeutendsten Ortschaften, darunter auch Visp, das Goms und das vordere Nikolaital. Des Saastals und Zermatts hatten sich italienische Grafen schon zuvor bemächtigt, gehörten ihnen doch bereits die Gebiete ennet des Monte-Moro-, des Antrona- und des St. Theodul-Passes.
Doch hatte auch Savoyen seinen Einfluss punktuell auf das Oberwallis ausgedehnt. Ihm gehörte unter anderem die Grafschaft Mörel. Vom Bischof hatten die Herren von Turn die Gestelnburg und das Amt des Viztums von Lötschen zu Lehen erhalten. Visp war Viztum des Bischofs.
Kontakt der Biandrate zu Barbarossa
Als berühmtester Spross der Staufer und einer der wichtigsten Kaiser im Mittelalter gilt Friedrich I. Barbarossa, der Rotbärtige, zu dem auch das Geschlecht der Biandrate Beziehungen pflegte. Von 1152 bis 1190, also fast 40 Jahre lang, lag das Schicksal des Heiligen Römischen Reichs in seinen Händen.
Mit Abstand grösster Grundbesitzer
Lange bevor der Bischof Graf und weltlicher Fürst wurde, war er Grundbesitzer gewesen. Als weltlicher Fürst war er nicht nur Inhaber der hoheitlichen Rechte im Wallis, sondern als Verwalter des bischöflichen «Tafelgutes» auch der grösste Grundherr im Land.
Als das Wallis im 12. und 13. Jahrhundert vom Lehenswesen ergriffen wurde, verloren sich die bischöfliche Domäne und das landesherrliche Recht zu einem erheblichen Teil an die Lehensträger.
Waren die Regalien, die Abgaben, der wichtigste Faktor, auf den sich seine weltliche Oberhoheit stützen konnte, so war der bedeutende Grundbesitz der Kirche im Lauf der Jahrhunderte ein nicht weniger wichtiges Element der tatsächlichen Ausübung der Rechte.
Als mit Abstand grösster Grundbesitzer im Wallis verfügte er selbst ausserhalb der Grafschaft Wallis und der Diözese Sitten über ausgedehnte Liegenschaften und Einkünfte. Wie andernorts waren die meisten Liegenschaften als Erblehen in den Händen von Adeligen oder Bauern, die sie gegen jährliche Abgaben oder Frondienste nutzten und weitervererben oder gar veräussern konnten. Dies hatte zur Folge, dass die Lehensgüter allmählich zerstückelt und dem Grundherrn teils entfremdet – oder einfach gestohlen? – wurden.
Der Bischof von Sitten hatte deswegen bereits im 13. Jahrhundert viele seiner alten ausgedehnten Besitzungen im Wallis verloren.
Weniger Grund und Boden für Bischof
Als Fürst des hochburgundischen (seit 999) und später des Deutschen Reichs (ab 1032) sollte der Bischof bis 1613, de jure bis 1634, über alle der königlichen Gewalt zustehenden Rechte und Einkünfte in der Grafschaft Wallis verfügen, soweit diese nicht durch geistliche und weltliche Immunitäten oder allodiale Herrschaften (persönlicher Besitz im Gegensatz zum Lehen) eingeschränkt waren. Solche Einschränkungen bestanden auch im Zenden Visp.
Aus einer Untersuchung für Visp und die Vispertäler geht hervor, dass der Bischof im 13. und 14. Jahrhundert bei Weitem nicht mehr den überwiegenden Anteil an Grund und Boden im Zenden besass. Peter von Roten wies für das Jahr 1300 nach, dass Bischof und Domkapitel in Visp und in den Visper Tälern nicht mehr über den grössten Anteil an Grund und Boden verfügten.
Solange es nur darum ging, die freien Bauern, den selbstständigen Dorfadel und die kleinen, unabhängigen Herrschaften, die im Land verstreut lagen, unter die bischöfliche Oberhoheit zu bringen, wird die Mühe nicht allzu gross gewesen sein.
Religiöse Betreuung trat in den Hintergrund
Der Bischof von Sitten war im späteren Mittelalter vor allem weltlicher Herrscher. Die vielfältigen Regierungsarbeiten und die Sorge um die Bewahrung seiner Rechte nahmen ihn so sehr in Anspruch, dass er für die religiöse Betreuung seiner Diözese nur noch wenig Zeit fand. Zeitgenossen sahen das noch klarer: «Die bischöfliche Fürstenmacht ist jetzt nicht mehr religiös fundiert; sie ist eine reine Eigensucht geworden.»
Bischöfliche Macht auf Oberwallis beschränkt
Im 14. Jahrhundert waren die Hoheitsrechte des Bischofs stark eingeschränkt. Das Haus Savoyen, das vor allem im unteren Rhonetal reich begütert war, hatte gewisse Rechte allmählich an sich genommen. Mit der Zeit verstanden es die Savoyer, sich der Oberhoheit des Bischofs ganz zu entziehen.
So war dessen öffentliche Macht fast nur noch auf das obere Tal des Rottens beschränkt, auf das Gebiet von Sitten aufwärts, auf die späteren sieben oberen Zenden. Aber auch hier stiessen die bischöflichen Beamten auf nicht bischöfliches Gebiet. Unter anderem waren die Freiherren von Turn reichsunmittelbare, das heisst reichsfreie Fürsten.
Einflüsse Savoyens auf das Wallis
Schon früh sah sich der Bischof von Sitten zwischen zwei Mächte gestellt: Savoyen und den Adel zum einen, das Volk zum anderen. Je auf ihre Weise schränkten diese seine Machtbefugnisse ein und eigneten sich seine Rechte an oder wollten sich diesen entziehen. Er stand in einem ständigen Kampf mit dem im Westen benachbarten Haus Savoyen, unter dessen Herrschaft ein Teil des Unterwallis bereits vom 12. Jahrhundert an stand. Die Grafen Savoyens waren stets bestrebt, ihren Machtbereich bis weit ins Walliser Hochtal auszuweiten.
Im 13. Jahrhundert begann sich die expansive savoyische Politik zu präzisieren. Die Grafen kauften vor allem im Gebiet zwischen Martigny und Sitten Herrschaften auf. In Konflikten mit dem Bischof stellten sie sich auf die Seite von Adel oder Gemeinden. Der savoyische Herrschaftsbereich zeichnete sich durch eine straffe und für die damalige Zeit moderne Verwaltung aus. Als der Bischof von Sitten die Verwaltung reorganisierte, folgte er dem savoyischen Vorbild, indem er im 14. Jahrhundert das Erb-Meiertum in den Verwaltungsbezirken durch Kastlaneien ersetzte. Dies ermöglichte ihm die Festigung seiner landesherrlichen Stellung und die Schwächung des Adels, der auf den Erb-Meiertümern sass.
Am Ende des 13. Jahrhunderts markierte die De-facto-Festlegung der Grenze bei der Morge in Conthey die verstärkte Macht des Hauses Savoyen im westlichen Wallis.
In den Kämpfen gegen Savoyen wählten die Oberwalliser 1388 einen Hauptmann, der ihr militärischer Führer wurde, in der Folge aber als allererster auch die Befugnisse des bischöflichen Landvogtes ausübte. Die beiden Ämter wuchsen zusammen und ab 1420 nannte sich der vom Landrat gewählte und vom Bischof bestätigte Inhaber «Landeshauptmann». Dieser war somit das Oberhaupt der sieben Zenden – auch Siders und Sitten gehörten dazu – und Statthalter des Bischofs. Er führte zudem den Vorsitz im Landrat. Im Lauf des Spätmittelalters wurden die Kompetenzen von Bischof und Domkapitel dann erheblich eingeschränkt.
Der mächtige Landadel im Walliser Machtgefüge
Neben dem Bischof und dem Grafen von Savoyen bildete bis ins späte Mittelalter der mächtige Landadel einen bedeutenden Faktor. In diesen hatten sich die Freiherren von Turn im 13. und 14. Jahrhundert und die Freiherren von Raron zu Beginn des 15. Jahrhunderts aufgeschwungen. Sie bildeten zu ihrer Zeit eine nicht zu unterschätzende Komponente im Walliser Machtgefüge. Dass Familien geadelt wurden, war zu dieser Zeit keine Seltenheit.
Der einflussreiche Junker Peter von Raron beispielsweise, Viztum von Leuk und Herr von Anniviers, hielt sich in den ersten Jahren der Regierung von Bischof Eduard, dem Savoyer, auch oft am bischöflichen Hof auf. Er scheint sich jedoch unter all den Fremden aus Savoyen nicht wohlgefühlt zu haben. Jedenfalls fand man ihn später an der Spitze der Gemeinden im Kampf gegen den Bischof und gegen Savoyen.
Genfer statt Oberwalliser Domherren
Unter dem Episkopat von Bischof Eduard von Savoyen (1375–1386) wurden Stühle im Domkapitel sogar mit Genfern neu besetzt, während die Oberwalliser leer ausgingen. Dies wurde auch damit begründet, dass es im Wallis an Ausbildungsmöglichkeiten für die Geistlichkeit fehlte.
Das Oberwallis – in seiner mittelalterlichen Ausdehnung von Sitten bis zur Furka – bildete das Rückgrat des bischöflichen Territoriums; hier befand sich das eigentliche Untertanenland, hier sassen die Vasallen der Kirche.
Gemeinden als lachende Dritte
Die Gemeinden freuten sich oft als lachende Dritte über den Kampf zwischen Bischof und Adel. Bald brauchte der Bischof die Landsleute im Kampf gegen den widerspenstigen Adel, bald standen sie mit dem Adel im Bunde gegen einen übermächtigen Bischof, der die von ihnen erworbenen Freiheitsrechte nicht respektierte, ja missachtete. Oder es galt, vereint mit beiden gegen die wiederholt anstürmenden Grafen von Savoyen auszuziehen, um sich den Waffendienst mit freiheitlichen Sonderrechten bezahlen zu lassen.
Wie sehr sich diese politische Lage zugunsten der Gemeinden auswirken konnte, zeigen eindrücklich die erstaunlich grossen Freiheiten von Leuk, die Bischof Eduard von Sitten 1376 und Andreas Gualdo 1419 erneuerten.
Ausdrücklich erklärte Bischof Eduard, die Gemeinde und die einzelnen Bewohner von Leuk seien weit mehr als alle anderen Gemeinden und Pfarreien des Landes Wallis bei Tag und Nacht dem Bischof und der bischöflichen Tafel zu Sitten treu und einsatzbereit gewesen, zur Ehre und zum Nutzen der Kirche von Sitten.
So stehen die Freiheiten von Leuk mit der freien Wahl der Gemeindebeamten, der Freiheit von Bann und Strafe, ihrer selbstständigen Gerichtsbarkeit, bei Verbalinjurien, also Beleidigung durch Worte, ihrem selbstständigen Marktauftritt an St. Niklaus, ihrem Fisch- und Jagdrecht, ihrem Mitspracherecht bei Aburteilung eines Übeltäters usw. im Oberwallis wohl an der Spitze, wenn es um die Freiheitsrechte geht.
Es wäre jedenfalls gewagt, die Leuker Sonderrechte ohne Weiteres auf andernorts gewährte Freiheiten zu übertragen. Doch geben sie wenigstens Hinweise auf den Rahmen und die Richtung, in der sich die Freiheiten auch andernorts bewegten – dies umso mehr als 1354 die von Kaiser Karl IV. durch seinen Gesandten Burkhard Mönch bestätigten Freiheiten Leuk, Raron, Visp, Naters und Mörel in einem Atemzug nennen.
Es ist da von Privilegien, Rechten, Freiheiten, Gnadenerweisen, Franchisen (zum Beispiel Zollfreiheit), Immunitäten und lobenswerten, anerkannten alten Gewohnheiten die Rede, was auf Sonderrechte bedeutenden Umfangs schliessen lässt.
Visp produzierte kaum für den Markt
Im Zuge einer neuen Wirtschaftlichkeit begannen die Bauern ab dem 12. Jahrhundert neben der Produktion für den Eigenbedarf auch für den Markt zu arbeiten. Die Walliser und damit auch die Visper beschränkten sich aber nach wie vor fast ausschliesslich auf Selbstversorgung – und das sogar bis anfangs des 20. Jahrhunderts.
Sprunghafte Zunahme der Bevölkerung
Im 12. und 13. Jahrhundert stieg die Bevölkerungszahl im Wallis, wie auch andernorts, sprunghaft an. Dies zwang die Bevölkerung einerseits zu intensiverer Bewirtschaftung des verfügbaren Bodens durch Rodung, Bewässerung und Düngung. Andererseits, wenn der Boden nicht für alle reichte, führte die Überbevölkerung zur Auswanderung.
Uralte Wasserfuhren
Unter den alten Wallisern muss es wackere Zimmerleute gegeben haben. Dies belegen die alten Wasserfuhren, die zum grossen Teil aus Holz bestehen. Die Augstbord-Wasserleitung von Törbel und Zeneggen soll bereits im Jahr 1150 so alt gewesen sein, dass sie erneuert werden musste.
Georges Duhamel sagte einst: «Man muss die Grösse eines Volkes nach der Arbeit messen, die es im Kampf um (und auch gegen) das Wasser getan hat.»
Genossenschaftlich organisierte Gemeinschaft
Anfangs des zweiten Jahrtausends dürfte Visp eine genossenschaftlich organisierte Gemeinschaft gebildet haben, deren Grundlagen in den gemeinsamen Werken und der gegenseitigen Hilfeleistung bestanden. Das Geld spielte eine untergeordnete Rolle.
1 500 Quadratkilometer, also weniger als ein Drittel des Wallis waren produktives Land, und zwar zur Hauptsache unbewässerbare Alpen und Allmenden, die in trockenen Sommern zum grössten Teil von den Heuschrecken genutzt wurden, und Wälder, in denen der Holzzuwachs infolge Niederschlagmangels um zwei Drittel geringer war als in der übrigen Schweiz.
Was ehedem im Gemeinwerk von den Tesselmännern oder Geteilen und Genossenschaftern selbst geleistet wurde, ohne die Tage und Stunden zu zählen, wird seit dem Übergang zur Geldwirtschaft mit Steuergeldern finanziert. Ohne Subventionen wird heute nichts mehr in Angriff genommen; zudem stehen technische Hilfsmittel zur Verfügung.

Der Pranger – abgebildet jener von Raron, links vom Eingang zum Burgerhaus – war seit dem 13. Jahrhundert ein verbreitetes Strafwerkzeug. In der Regel handelte es sich um eine Säule mit Eisenspange auf einem stark besuchten öffentlichen Platz, in Visp beim Blauen Stein. Am Pranger wurden Menschen für Sittlichkeits- und kleinere Vermögensdelikte öffentlich zur Schau gestellt. Auch Fluchen wurde bestraft, wenn es als Gotteslästerung eingestuft wurde, ebenso Ehrverletzung, Meineid und Gefährdung der Ordnung.
© Peter Salzmann
Das Bürgertum erwachte
In diese Zeit fällt auch das Erwachen des Bürgertums – das couragierte Auftreten von Bürgern, die im Verlauf von wenigen Jahrhunderten den Adel in seiner Bedeutung immer mehr beschränkten und später überhaupt ausschalteten.
Das Wallis war keineswegs so abgeschlossen, dass es nicht auch den geistigen Strömungen ausserhalb ausgesetzt gewesen wäre. Als Passland war es – und Visp in besonderem Mass – gegenüber den grossen Entwicklungen offen. Dazu kommt, dass sein Adel von auswärts, sogar aus dem benachbarten Italien kam, sodass neue Ideen leicht hereingetragen werden konnten. Dies muss allerdings insofern relativiert werden, als die Distanz zwischen Adel und Volk gross war.
Das Wort Bürger stammt vom althochdeutschen «burgari», was so viel wie «Burgwehren» oder Burgverteidigung bedeutet. Mit der Zeit wurde es der wachsenden Zahl von Burgbewohnern in der Burg selbst zu eng, sodass sie gezwungen waren, die Burgmauern zu verlassen und sich ausserhalb des umfriedeten Areals anzusiedeln.
Um das Bild aufzunehmen: In Visp brauchte es für die Besiedlung ausserhalb der Burgmauer im Talgrund aufgrund der häufigen Hochwasser eine sehr lange Zeit.