Walther Staub, der ab 1925 im Auftrag der geologischen Landesaufnahme der Schweiz Kartierungen im Wallis vornahm, veröffentlichte 1946 in der Zeitschrift «Geographica Helvetica» einen Artikel, der sich mit den letzten eiszeitlichen Gletscherstadien im Gebirge zwischen Visp und dem Turtmanntal befasst. Er schreibt: «Auf der Nordabdachung des Rhonetales, zwischen Visp und Turtmann, in den sogenannten Rarner Schattenbergen, liegt über der heutigen Waldgrenze eine grössere Zahl von Kar-Nischen in die abschliessenden Gratpartien eingeschnitten.» Die nach dem Zweiten Weltkrieg neu herausgegebene Landeskarte der Schweiz 1:50 000 (Visp W, Westblatt) gibt diese Nischen genau wieder. «Die Landschaft über Visp gleicht einer den Walliser Viertausendern vorgelagerten Voralpenlandschaft. Sie zeigt den Mittelgebirgscharakter des pliozänen Reliefs an.» (Pliozän: Zeit zwischen mehr als fünf und 2.5 Mio. Jahren).
700 Meter dickes Eis über dem Ort
Gemäss einer anderen Arbeit, an der Staub beteiligt war, lag die Talsohle über Visp vor dem Einsetzen der Eiszeit etwa in 1 450 bis 1 550 Meter heutiger Meereshöhe. Der tiefer eingeschnittene Teil des Tals sei «somit durch den Fluss und die Gletscher während der Eiszeit geformt worden. Moränen, erratische Blöcke und Gletscherschliffe zeigten, dass der Gletscher der letzten Eiszeit (Würmeiszeit) bei seinem höchsten Stand das Rhonetal bis zur Höhe von 2480 Meter erfüllte.
Der Geologe hielt fest: «Das Geschnitz-Stadium [zwischen 13 000 und 14 200 v. Chr.] der Vispetal-Gletscher erreichte das Rhonetal über Visp, wobei das Eis über dem Städtchen Visp selbst noch bis zu einer Meereshöhe von 1300–1400 m gelangte, also wohl noch über Zeneggen nach der ‚unteren Hellelen‘ fliessen konnte.»
Moränen mit Gesteinsblöcken aus den Tälern
«Aufschlüsse von Moränen mit grossen erratischen Blöcken aus dem Hintergrund der beiden Vispertäler finden sich an der neuen Strasse und dem alten Saumweg nach Bürchen und Zeneggen bis zu einer Meereshöhe von rund 1 000 m. An der Vereinigungsstelle der beiden Visp über Stalden erreicht die Moräne 1200 m Meereshöhe.»
Der fruchtbare Moränenboden bei Visp
«Zu beiden Seiten des unteren Vispertals liegen die Rebberge der Einheimischen auf dieser Moräne, wie denn der liebliche Charakter des mit Obstbäumen bestandenen Talausgangs bei Visp zu einem guten Teil dem fruchtbaren Moränenboden zu verdanken ist.» Der Autor stellt für das mittlere Wallis zusammenfassend fest, «dass am Ende der letzten Eiszeit ein erneutes letztes Vorrücken sowohl der grossen Talgletscher wie der Kargletscher eintrat, als die Schneegrenze bei zirka 2400–2500 m Meereshöhe lag. Die Gletscherzungen traten in kurz vorher neu vertiefte Talstücke vor; ihre Moränen sind für die Anlage von Ackerflächen von Bedeutung. Dies ist nicht nur auf der Terrassenfläche von Bürchen-Unterbäch-Eischoll zu erkennen, sondern auch in den Talsohlen der beiden Vispertäler und des Turtmanntales …».
Ältester Zeuge der Visper Vergangenheit
Es dürfte wenige Orte geben, die wie Visp über einen so markanten, zentral gelegenen und kaum veränderten Zeugen geologischer Entwicklung verfügen: Es steht heute fest, dass der Blaue Stein schon vor bald 15 000 Jahren – während der Eiszeit – aus einer schütteren Felsschulter herausgebrochen und von Gletschern, Wasser und Lawinen vom Saastal her Richtung Rhonetal nach Visp hineingetragen, geschwemmt und gerollt wurde. Mitten im «Stutz», seinem heutigen Standort, blieb er in einer ihm geologisch fremden Umgebung liegen und fand seine Bleibe. Hier lag er lange vor allen historischen Ereignissen, von denen noch zu berichten sein wird: Er ist der mit Abstand älteste Zeuge der Visper Vergangenheit. Spätere Spuren stammen erst wieder aus der Bronzezeit.
Herkunft Mischabelgebirge
Der Blaue Stein ist ein Findling, also ein vereinzelt liegender, erratischer, grosser Gesteinsblock aus einem ehemals vergletscherten Gebiet, der während der Eiszeit an seinen heutigen Standort gelangte. Fachleute gehen davon aus, dass der Blaue Stein vor seiner Reise nach Visp zur festgefügten Felsmasse am östlichen Ausläufergebirge der mächtigen Mischabelgruppe gehörte. Naturkräfte wirkten nicht nur beim Aufbau der Gebirge, sondern auch bei deren Abbau und Zerstörung: Abwechselnde Kalt- und Warmwetterperioden, einsickerndes Schmelzwasser und Frostwirkungen machten die Gratkanten rissig und spröde. Diese zerbröckelten zu Blöcken und Trümmergesteinen, während durch Gletscherfrass unterhöhlte Kargrate allmählich nachgaben und über zerschundenen Firnfeldern einstürzten.
Gesteinsblock talauswärts unterwegs
Solche Vorgänge der Gratverwitterung dürften auch die Entstehung des Blauen Steins von Visp bewirkt haben. Gemäss einer bildkräftigen Darstellung könnte sich dies so zugetragen haben: Ursprünglich als mächtiger Quader aus der Gratschulter des Allalinhorns losgebrochen, zerschlug sich ein mächtiger Block beim Sturz in die Tiefe zu hundert Stücken, die gleich Meteoren in den drachenähnlich einherschleichenden Eisstrom aufschlugen. In Jahrtausende währenden Vorstössen der Gletscherzungen wurden die zerschmetterten Serpentinstücke teils mittelrücks, teils als seitliches Geschiebe dreidimensional verschoben und talauswärts verfrachtet.
Im Verlaufe des Schubes verloren die Felsbrocken nach und nach die Fühlung miteinander. Einige gerieten in der Talverzweigung hoch über dem heutigen Dorf Stalden in die Klemme zwischen Allalingletscher und Gornereis, um von der nach links abgedrehten Seitenmoräne über dem Zeneggerberg abgesetzt zu werden. Wieder andere blieben weiter rückwärts als Randsteine zurück oder kamen mit der Abschmelze des Gletschers im Flussbett und auf dem Talgrund zu liegen.
Larry Schnidrig, der nach Basel ausgewanderte Walliser Autor aus Grächen, beschrieb 1965 in der «Basellandschaftlichen Zeitung» die Wanderung des Visper Blauen Steins ausführlich. Solche «Bläulinge» gebe es im Schlicksand des Mattmarksees. Der «häle» Stein in Visp sei ein merkwürdiger Vertreter davon.

Visp am Boden des «Walliser Ozeans», der vor 60 Millionen Jahren dem europäischen Kontinentalrand vorgelagert war? Südlich oberhalb des Kieswerks Ennet der Vispa liegt in den Steilhängen der westlichen Talseite eine 10 bis 15 Meter mächtige aufgesägte Linse von sogenannter Kissen-Lava. Die aufeinandergetürmten, 30 bis 60 Zentimeter langen Kissen bestehen aus Lava-Kugeln eines Unterwasser-Vulkans, die an ihrer Aussenseite im Wasser schnell abgekühlt sind.
© Peter Salzmann
Findling aus Serpentin-Schiefer
Was den Blauen Stein gegenüber den meisten seiner «Artgenossen» auszeichnet, ist die satte, grünlich-blaue Farbe mit dichten Kristall-Einschlüssen. Durch diese und weitere Eigenschaften mineralogischer Natur erlangte er bei Wissenschaftern vermehrte Beachtung und eine gewisse Sonderstellung unter den vergleichbaren Findlingen, die im Umgelände und weiter talauswärts zu Hunderten verstreut herumliegen. Aufgrund seiner feinfaserigen Struktur reihte man den Blauen Stein unter die Serpentin-Schiefer ein. Dank seiner geologischen Eigenschaften besitzt er eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit gegen Anbohrung und mechanische Bearbeitung.
Sein Weg führte mitten in die spätere Visper Burgschaft, wo er schon früh ins Rampenlicht des Geschehens rücken sollte. Er wirkt wie ein vom Himmel gefallener Tisch – nicht ganz eben, mit abgeschlagenen Ecken.
«Vorhistorisches Monument»
Im Anzeiger für Schweizerische Altertumskunde beschrieb der Historiker B. Reber den Stein im Jahr 1891 wie folgt: «Bei einem Gange durch Visp fiel mir oben im Ort, in der Nähe der Kirche, mitten auf einem kleinen Platze ein erratischer Serpentinblock auf. Der vielfach von Sagen patriotischen sowie mythologischen Inhalts umgebene Block heisst im Volksmund der ‚Blaue Stein‘. Bei genauer Betrachtung erblickt man in der nord-westlichen Ecke eine sehr schöne Schale von 4 Zentimeter Durchmesser und 1 Zentimeter Tiefe. Dicht daneben folgt ein nicht tiefer, aber äusserst deutlicher Ring mit vertieftem Mittelpunkt, den Kreisen auf dem Rocher du Planet in Salvan sehr ähnlich. Nebst diesen zwei unverkennbar keltischen Zeichen erhält der Block noch drei Kreuze, wovon besonders das eine gut ausgeprägt und erhalten geblieben ist. Es misst 6 Zentimeter in jeder Richtung. Somit müssen wir den ‚Blauen Stein‘ von Visp zu den bedeutenderen vorhistorischen Monumenten zählen.»
Der älteste Walliser Mensch lebte am Genfersee
Wie Werner Bellwald im Buch «Blickpunkt Leuk 515–2015» festhält, sind Funde aus der Mittelsteinzeit – etwa 10 000 bis 5 000 vor Christus – im Wallis nicht häufig. Einer der ältesten Funde im Wallis wurde zuunterst im Tal, in Vionnaz im Chablais gemacht. Anlässlich einer Grabung bei einem Felsunterstand wurden die frühesten Funde von Knochen eines Menschen im Wallis geborgen. Auch Tierknochen fand man, von denen zwei Drittel von Hirschen stammten.
Fast 4 000 Meter Höhenunterschied
Die Höhendifferenz zwischen Visp an der Eingangspforte zu den Vispertälern (651 Meter über Meer) und dem höchsten Gipfel der Schweiz, der Dufourspitze (4 638 Meter über Meer) beträgt 3 987 Meter.
Gedenkstein für 1388
Den Einheimischen ist der sagenumwobene Blaue Stein, der mitten im Aufstieg vom Kaufplatz zum Martiniplatz liegt, nicht nur als vorhistorisches Monument wichtig. Naturwissenschaft, Dichtkunst und Geschichtsschreibung hatten Einfluss auf die Bedeutung dieses blau-grünen Findlings, der unter dem früher gebräuchlichen Namen «Häler Stein» in die Geschichte des Zenden Visp eingehen sollte. Er erinnert die Bevölkerung an die drei aufregenden, eiskalten Tage kurz vor Weihnachten 1388 – die Schlacht von Visp. Der Blaue Stein wurde zum Gedenkstein für dieses Ereignis «befördert», obwohl er – entgegen den Sagen – in der damaligen Schlacht keine Rolle spielte; allein sein Gewicht hätte nicht zugelassen, was man über ihn erzählte. An der Schlacht bei Visp hatte er keine Funktion, denn die feindlichen Savoyer lauerten in der entfernten, unwirtlichen Talebene, wo auch die kriegerische Auseinandersetzung stattfand, also ziemlich weit weg von der bewohnten Burgschaft.
Inschrift statt Denkmal
1929 wies ein Presseartikel auf die Bedeutung der Visper Schlacht von 1388 hin; darin wurde der Wunsch geäussert, dass diese grosse Freiheitstat bei der Gedenkfeier durch ein Denkmal gewürdigt werde. Auch der Geschichtsforschende Verein Oberwallis schloss sich auf Vorschlag von Leo Mengis diesem Begehren an.
So wurde denn 1938 bei der Bildung des Organisationskomitees auch eine technische Kommission gebildet mit Kantonsarchitekt Carlo Schmid, dem Siderser Architekten, Marc Burgener und dem Visper Forstinspektor Leo Bodenmüller. Dieses Gremium hatte den Auftrag zu prüfen, in welcher Form dem Platz, auf dem der Blaue Stein liegt, und dem Gedenkstein selbst in historischer Hinsicht Rechnung getragen werden könnte. Pläne und Kostenvoranschlag waren von der Kommission mit Kenntnis und Sorgfalt ausgearbeitet worden. Mit geringen Umbauten hätte der Platz in wenigen Wochen einen merklich gesteigerten Wert erhalten. Wegen deutlichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Visper Bevölkerung wurde aber dem Kommissionsvorschlag nicht Rechnung getragen. Daraufhin beschloss der Gemeinderat, einfach auf dem seit Menschengedenken da liegenden Blauen Stein neu die Jahrzahl 1388 einmeisseln zu lassen.
Dies wurde 1938, anlässlich der 550-Jahr-Feier der Schlacht bei Visp, zur Erinnerung an das Ereignis von 1388 auf dem Stein ausgeführt, auf dem auch die drei Kreuze eingraviert sind.
Der «Pranger» von Visp
Die Sage erzählt, dass auf dem Blauen Stein die Hexen und Striggien (männliche Hexen) der Vispertäler ihre Gastmahle abhielten. Zudem soll auf oder neben dem Stein auch Gericht gehalten worden sein; er war so etwas wie der Pranger von Visp. So mussten hier sonntags die zahlungsunfähigen Schuldner sitzen, mit einem Strohkranz als geometrische Schandmaske auf dem Haupt.
In der Visper Karte Merians von 1642 wird dieser Ort als «Gerichtsbank» bezeichnet. Das dreimalige öffentliche Hinsetzen auf dem Stein nach Ausziehen der Oberkleider wurde wohl vom benachbarten Italien übernommen; dort bedeutete es die Aufgabe des eigenen Besitzes.