Kapitel Nr.
Kapitel 14
Zeithorizont
1848

Munizipalgemeinde trat 1848 an die Stelle der Burgerschaft

Als der Sonderbund der katholischen Orte, dem das Wallis 1845 beigetreten war, in der bewaffneten Auseinandersetzung von den übrigen Kantonen zerschlagen worden war, übernahmen im Wallis Ende 1847 die Radikalen die Macht und stellten wichtige Weichen. Unter ihrem Regime entstand denn auch die kantonale Verfassung vom 10. Januar 1848. Darin wurde die Gleichstellung aller Walliser vor dem Gesetz verankert und man führte die Pressefreiheit wieder ein; alle Bewohner erhielten das Recht der Niederlassung. Der Klerus verlor seinen Einsitz im Grossen Rat. Die geistlichen Ämter erklärte man für unvereinbar mit den weltlichen Ämtern und der Ausübung der politischen Rechte. Das Volk konnte nun den Grossen Rat direkt wählen. Die Kantonsregierung erfuhr eine Stärkung. Mit dieser Verfassung und der daraus folgenden Gesetzgebung fand das Wallis bereits weitgehend seine heutige Organisation. «Wallis bildet einen souveränen und als Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft einverleibten Staat. Die Souveränität beruht auf der Gesamtheit der Walliser Bürger. Die Regierungsform ist eine repräsentative Demokratie», lautete Artikel 1 der kantonalen Verfassung. Die neue schweizerische Bundesverfassung wurde im Walliser Grossen Rat fast ohne Gegenstimmen angenommen; das Volk indessen lehnte sie am 20. August mit grossem Mehr ab, im Oberwallis fast einstimmig. Nach der Zustimmung der Mehrheit der Kantone erfolgte am 12. September 1848 die Inkraftsetzung dieser Verfassung. Der Bundesstaat wurde Tatsache.

Mit der neuen Verfassung wurden die Burgerschaften zugunsten der neuen Munizipalität abgewertet, die Gleichstellung aller Schweizer vor dem Gesetz, die Presse-, Handels-, Gewerbe- und Kunstfreiheit eingeführt, Deutsch und Französisch als Landessprachen bestimmt. Der Klerus wurde aus den politischen Ämtern verbannt. Der Schriftsteller Alex Capus schilderte die damalige Situation wie folgt: «Die Schweiz, gegründet 1848 als mausarmes Agrarland ohne nennenswerte Rohstoffe. Die Gründerväter haben alles geschaffen, worauf die moderne Schweiz stolz ist: Freiheit, Chancengleichheit, direkte Demokratie, Föderalismus, Milizsystem, bewaffnete Neutralität, Friede, Wohlstand, soziale Sicherheit. Vor 1848 gab es nichts davon, alles danach.»

Artikel 4 der neuen Bundesverfassung lautete: «Alle Schweizer sind vor dem Geseze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.» Erstmals war damit die Rechtsgleichheit – ein Grundpostulat der Französischen Revolution – ausdrücklich anerkannt, auch im Wallis.  Bis dahin war nur der Burger als aktiver, selbstständiger Bürger anerkannt gewesen. Da die Schweiz bis zum Jahr 1848 ja nur ein loser Staatenbund gewesen war, hatte es bis zu diesem Zeitpunkt keine schweizerische Staatszugehörigkeit und somit auch kein schweizerisches Bürgerrecht gegeben. Das war bis dahin, während gut einem halben Jahrtausend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, für die eine Hälfte der Bewohner auch in Visp die harte Realität gewesen. Damals zählte Visp rund 500 Einwohner und etwa 100 Stimmberechtigte. Es hatte einerseits Burger oder Gemeinder und auf der anderen Seite Nichtgemeinder, genauer gesagt Geduldete gegeben, und eine grosse Zahl von Heimatlosen und somit krass Benachteiligten. Mit der neuen Bundesverfassung verschwanden diese grossen Unterschiede mit einem Federstrich – zumindest theoretisch. Die Kantonsverfassung von 1848 liess auch die in den Walliser Gemeinden niedergelassenen Schweizer Bürger zur Urversammlung zu, sofern die Walliser in deren Herkunftskanton gleiche Rechte genossen.

Als 1848 das Datum der «Machtübergabe» an die neue Visper Munizipalgemeinde nahte, bangten die Burger um ihre Vorteile, ja um die Weiterexistenz ihrer über Jahrhunderte bewährten Institutionen. In grosser Panik fassten sie verschiedene Rettungsmassnahmen ins Auge. So wollten sie einmal mehr das Burgervermögen vor dem kommunalen und staatlichen Zugriff schützen – durch die Verteilung an die einzelnen Burger. Auch alle Liegenschaften mit Ausnahme der Burgerkapitalien und der Burgergebäude sollten unter die Burger verteilt werden. Man war in Sorge um die Zukunft der Institution Burgerkorporation. So wurde 1848 in Visp beschlossen: Sämtliche Liegenschaften mit Ausnahme der Burgerkapitalien und der Burgergebäude sollten unter die Burger verteilt werden. Dazu kam es aber nicht mehr.

Auf lokaler Ebene war die wesentliche Neuerung die Munizipalgemeinde. Deren Wirkungskreis galt es nun neben der jahrhundertealten Burgerschaft aufzubauen. Den Munizipal- und Gemeinderäten der Gemeinde Visp, die ihre Arbeit im Februar 1848 unter der Leitung von Donat Andenmatten aufnahmen, wurden unter anderem das Polizeiwesen im Innern der Ortschaft und die Feldpolizei überantwortet. Auch die Aufsicht über das Schulwesen, das in einem desolaten Zustand war, unterstand ihnen.