Kapitel Nr.
Kapitel 14.03

Burgerschaft fühlte sich nach 1848 benachteiligt

Die Burgergemeinde hat die Entstehung, die Entwicklung und den Fortbestand des Kantons Wallis massgebend beeinflusst und entscheidend mitgeprägt. Wichtig waren Erwerb und Verlust des Burgerrechts, die Nutzungsrechte an gemeinsamen Gütern, die Pflichten der Burger und das Strafrecht der Burgerschaften. Aufgrund ihrer jahrhundertealten Tradition waren die Burger bodenständig und sesshaft. Sie besassen im Unterschied zu den übrigen Einwohnern oder Aufenthaltern eine gewisse soziale Sicherheit, denn sie verfügten über Pflanzgärten, Äcker, Burgerlöser und Burgerholz, damals von sehr grosser Bedeutung.

Obwohl Napoleon bereits anfangs des 19. Jahrhunderts Munizipalitäts-Strukturen eingeführt hatte, dominierte in Visp nach wie vor, praktisch bis zum Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung von 1848, die Burgergemeinde.

Am Fuss des Turms der damaligen Burgerkirche änderte sich Mitte des 19. Jahrhunderts vieles: Die Position der Burgergemeinde wurde gegenüber jener der Munizipalgemeinde geschwächt.

© Peter Salzmann

«Burgerholz und Burgerstolz»

Burgerholz und – so Adolf Fux – Burgerstolz hoben die Burger über die anderen Visper, die Aufenthalter oder Einwohner hinaus.

Nach wie vor war nur der Burger als aktiver, selbstständiger Bürger anerkannt. Bis 1848 gab es im losen Staatenbund keine schweizerische Staatszugehörigkeit und somit auch kein schweizerisches Bürgerrecht. Das war für die eine Hälfte der Bewohner bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts harte Realität, auch in Visp.

Mit dem Inkrafttreten der neuen Bundesverfassung 1848, des Gesetzes über die Gemeindeverwaltungen von 1851 und der Kantonsverfassung von 1852 gehörte dies alles der Vergangenheit an. Im Wallis wurde das administrative Dualsystem der politischen Gemeinde und der Burgergemeinde mit je einer Urversammlung und einem Rat eingeführt. Die Burgerschaft trat die öffentlichen Aufgaben und Rechte an die Munizipalgemeinde ab. Auch in Visp existierte fortan die politische Gemeinde – von Rechts wegen – und daneben die Burgerschaft. Damit endete die praktisch unbeschränkte Herrschaft der Burgerschaft, die in Visp mehr als sechs Jahrhunderte gedauert hatte. Während dieser langen Zeit war diese allein für Wohl und Gedeihen der Bevölkerung in der Burgschaft zuständig und verantwortlich gewesen.

Da die Burger noch lange die Mehrheit in der örtlichen Bevölkerung bildeten, nahmen sie nach 1848 auch noch in der neu per Gesetz gegründeten Munizipalgemeinde bis weit ins 20. Jahrhundert in der lokalen Politik die meisten, vor allem die einflussreichsten Schlüsselpositionen ein. Mit den allgemeinen Böden und vor allem den Wäldern behielt sie aber gemäss dem neuen Gesetz ein Privileg, das ihr jedoch auch Aufgaben und Verantwortung für die gesamte Gemeinde brachte.

Erschütterung für die Burgerschaft

Jedem Schweizer Bürger wurden nun an seinem jeweiligen Niederlassungsort dieselben politischen Rechte zuerkannt wie den bis dahin extrem privilegierten Burgern. Das heisst, mit der Bundesverfassung von 1848 wurde den niedergelassenen Bürgern anderer Kantone in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten das Stimmrecht gewährt. Obwohl diese Niedergelassenen erst bei der Revision der Bundesverfassung 1874 das Stimmrecht auch in kommunalen Angelegenheiten zuerkannt erhielten, wurden die Konsequenzen des neuen Bundesstaates 1848 von den Burgergemeinden als eine gefährliche Erschütterung empfunden: Die Burger bangten um die Weiterexistenz ihrer altbewährten Institutionen – auch in Visp. Man wollte das Burgervermögen durch die Verteilung an die einzelnen Burger vor dem kommunalen und staatlichen Zugriff schützen, die «Rückfälligkeit» des Burgervermögens an die Burgerschaft aber sichern.

Güteraufteilung angesichts der «Munizipalgefahr»

1848 beschloss der Burgerrat angesichts der bevorstehenden Einführung der Munizipalgemeinde und den «feindlichen Bestrebungen», welche die Burgerkorporationen ernsthaft bedrohten, den Burgern die Verteilung des Burgervermögens vorzuschlagen. Dieser Vorschlag wurde von der Burgerversammlung mit Ausnahme der Burgerkapitalien und Gebäude bewilligt. Der Burgerrat wurde beauftragt, der nächsten Burgerversammlung einen Entwurf für diese Teilung vorzuschlagen. Man begründete dies damit, es tue sich im Wallis und sonst ein feindseliges Bestreben gegen die Burgerkorporationen kund. So seien diese Institutionen für die Zukunft ernstlich bedroht und könnten auch wesentlich in Anspruch genommen werden.

1848 Barvermögen von 23 000 Franken

Am 4. März 1848 betrug der Aktivbestand des Vermögens der Burgerschaft Visp netto 22 874.77 Franken.

In dieser Kapitalsumme nicht inbegriffen war der Wert der Burgergebäude, der öffentlichen Plätze, Eyen, Allmeinden und Burgerwälder.

Der Übergang der örtlichen Macht an die Munizipalgemeinde muss die löbliche Burgerschaft von Visp auch materiell voll getroffen haben. Da richtete nämlich am 29. Juli 1848 der Gemeindepräsident von Visperterminen, Peter Josef Mühlacher, ein Schreiben an den Visper Burgermeister. Darin zeigte er ihm an, die Terbiner hätten beschlossen, dass jede ihrer Haushaltungen mit einem mannwerkfähigen Individuum der Burgerschaft von Vispach eine unentgeltliche Tagesschicht leisten werde.

Die Bilanz bei der Munizipalgemeinde erwies sich zehn Jahre später als geradezu bescheiden. Bei Totaleinnahmen von 2 586.54 Franken ergab sich ein Ausgabenüberschuss von 759.31 Franken.

Argwöhnisches gegenseitiges Überwachen

Zu Beginn der Koexistenz von Burgerschaft und Munizipalgemeinde kam es wiederholt zu Spannungen zwischen den beiden Körperschaften und zu Auseinandersetzungen um Rechte und Besitz. Burgerschaft und Munizipalität begannen sich bald eifersüchtig zu überwachen. Die Zusammenarbeit kam so nicht immer zum gewünschten Ziel.

1865/1866 zum Beispiel leitete die Burgerschaft gegen die Munizipalität wegen zu hoher Besteuerung einen Prozess ein. Bevor es zu einem Entscheid kam, einigte man sich auf eine Vereinbarung, bei der beide Teile Konzessionen machten. Die Burgerschaft zahlte lediglich die Hälfte der von der Munizipalität geforderten Abgaben. Dafür wurde der Weidgang nicht nur für die Burger, sondern auch für die Einwohner frei und das Geld aus der Beholzung kam statt der Burgerschaft der Munizipalität zu.

Das Verwaltungsgericht aber verfolgte dessen ungeachtet die Klage der Burgerschaft weiter und wies diese zwei Jahre später ab, womit die Vereinbarung hinfällig wurde. [Siehe auch Kapitel 15.06 «Die Steuerrechnung, welche die Visper entzweite».] Eine gegenseitig gesicherte Koexistenz von Burgerschaft und Munizipalgemeinde begann sich erst nach und nach herauszubilden.

Burgerwälder wurden besteuert, Privatwälder nicht

Am 8. März 1856, also acht Jahre nach der Einführung der Munizipalität, fühlten sich die Burger von Visp in Sachen Steuern ungerecht behandelt und taten dies auch kund. Angesichts dessen, dass Wald und Allmeinden der Burgerschaft als steuerpflichtig angesehen wurden, beschlossen die Burger, dass es gerechtfertigt sei, den Einwohnern und Hintersässen für das Abholz aus den Burgerwäldern und für den Weidgang einen fixen Preis festzusetzen, und zwar wie folgt: für Kühe und Rinder: 2 Franken pro Stück; für kleines Hornvieh: 1 Franken pro Stück; für Abholz zu ihrem Hausbedürfnis: 5 Franken.

Die Taxation der Burgerwälder wurde umso mehr empfunden, als die Particularwälder keine Abgaben zu entrichten hatten. Wegen einer Herabsetzung der Schatzung der Burgerwälder intervenierten der Burgermeister, sein Vize und die Burger beim Staatsrat. Ihr Begehren wurde jedoch abgewiesen.

Aufnahme der Kanzel der Burgerkirche Visp aus dem Jahr 1902.

Schweizerische Nationalbibliothek. Sammlung Max van Berchem, EAD-8645

Abgaben für den öffentlichen Dienst

Entsprechende Gesetze und Dekrete verpflichteten die Burgerschaft zur Abgabe von Eigentum an die politische Gemeinde für den öffentlichen Dienst. Die Grundgüter der Burgerschaft waren der gleichen Besteuerung unterworfen wie diejenigen aller Privatpersonen.

Die Wälder und Allmeinden blieben jedoch auf Jahre unbesteuert. Da war es nicht überraschend, dass der Gesetzgeber die Burgerschaften auch mit den Wäldern zur Beihilfe an die öffentlichen Lasten heranzog: Er verpflichtete sie zur Abgabe von Brennholz für die Heizung der Primarschule und ein Gleiches geschah für das Armenwesen – all das auch in Visp.

Gleich den anderen Burgerschaften in den industrie- und verkehrsreichen Ortschaften im Kanton, wo allmählich Fortschritt und eine rasche Entwicklung der Bevölkerungszahlen festgestellt wurde, musste auch in Visp ein grösserer Beitrag, ja die «Opferung» eines bedeutenden Teils des Burgervermögens erbracht werden.

Andere Burgerschaften im Kanton griffen zur Selbsthilfe: mit frei getroffenen Abmachungen zwischen Gemeinde und Burgerschaft, mit einer Ablösung dieser als ungerecht empfundenen Belastungen durch eine einmalige Abfindungssumme.

Burger forderten Befreiung von Extrabelastungen

So wandte sich die Burgerschaft fast hundert Jahre später mit dem Begehren an die Munizipalgemeinde Visp, den Betrag für immerwährende Enthebung aller Extrabelastungen, welche über die gewöhnlichen Steuern und die Zahlung an den Revierförster hinausgingen, zu bezeichnen.

Einmal mehr verwiesen sie auf ihre ungünstige finanzielle Lage. Sie hielten fest, dass sie keine Senkung der allgemeinen Steuern verlangten, sondern nur ersuchten, jedem anderen Steuerzahler gleichgestellt zu werden, und sie baten um Ablösung der ungerechten, aussergewöhnlichen Belastungen.

Sie fanden es nicht richtig, dass 400 Burger, welche die gleichen Steuern wie die anderen für Schulhausbauten und Schulhausheizung entrichteten, zusätzlich noch einen Extrabeitrag leisten mussten, während die übrigen 2 100 Bewohner davon befreit blieben. Das Gleiche gelte für die armengenössig gewordenen Burger.

Burgerschaft gab nach

Ein längerer Disput entspann sich vor gut hundert Jahren um den «Vispa-Sand» zwischen Pulverturm und St. Martinskirche: Einerseits betrachtete sich die Munizipalität als Eigentümerin, während die Burgerschaft vorgab, 1846 für dessen Erwerb 54 alte Franken bezahlt zu haben. Schliesslich gab die Burgerschaft nach, «weil ja die beiden Verwaltungen denselben Zweck verfolgen, nämlich das Wohl der Bevölkerung».

43 Losholz-Berechtigte

1848, im Jahr der Machtübergabe im Dorf, erstellten die Visper Burger die Liste jener Burger, die Anrecht auf den Bezug von Losholz hatten. Insgesamt waren es 43 Personen oder deren Nachkommen, darunter die drei Witfrauen von Alois Zimmermann, Franz Zurkirchen und Lang. Den Vornamen und früheren Familiennamen dieser Frauen verschwieg man noch lange geflissentlich.

Burgernutzen in Visp nur für Ortsansässige

1848 stellte sich die Frage, ob man den auswärts wohnenden Burgern das gleiche Anrecht auf den Burgernutzen zugestehen wolle. Der Gesetzgeber liess diese Frage 1870 den einzelnen Burgerschaften zum freien Entscheid. In Visp behielten die ortsansässigen Burger diese Nutzung für sich.

Die Uhr der damaligen Burgerkirche, die heute untere Kirche genannt wird.

© Peter Salzmann

Burgschaft oder Burgerschaft?

Die Ausdrücke Burgschaft und Burgerschaft werden in Visp seit jeher durcheinandergeworfen. Dabei ist die Burgschaft eindeutig der Ort Visp, das «burgesia Vespiae», während die «Burgerschaft», die «communitas de Vespia», bis 1848 die Gemeinde bildete und diese auch führte: Heute führt die Burgerschaft neben der nun regierenden Munizipalität ein Eigenleben.

1848 beschränkte sich die Siedlung noch vorwiegend auf die Burgschaft. Diese verdankte ihren Namen wahrscheinlich einer Ringmauer, deren bescheidene Überreste im Nordosten des Gräfinbiels noch an die frühesten Zeiten der adeligen Meier des 13. Jahrhunderts erinnern.

Nicht nur Magen, sondern auch Gemüt bedienen

1870 wurde der Schustermeister Johann Furger zum Preis von 700 Franken und einer allgemeinen Trunkmahlzeit als Burger angenommen. Der Trunk sollte nicht allein den Magen bedienen, sondern auch Herz, Gemüt und die Kameradschaft neu beleben und die Verbrüderung der Burger ketten.

Schriftliche Stimmabgabe

Da nur die schriftliche Stimmabgabe volle Diskretion und Freiheit garantierte, wurde 1885 verordnet, dass über jede Aufnahme von Neuburgern in geheimer schriftlicher Abstimmung entschieden werde.

Das Banner der Visper Burger

Auf dem Banner der Visper Burger thront über den Löwen ein grosser Adler. Dieser trägt eine goldene Krone. In der einen Klaue hält er ein goldenes Zepter, in der anderen eine goldene Weltkugel. Klauen, Schnabel und andere hervortretende Teile des Adlers sind aus Silberfäden gestickt. In den vier Ecken des Banners befinden sich vier kleine Adler, die in Form und Farbe dem grossen entsprechen. Während der grosse Adler den ganzen Zenden oder Bezirk darstellt, versinnbildlichen die vier kleinen Adler die früheren vier Viertel des Zenden Visp. Das Visper Wappen wurde so auch zum Zendenwappen erhoben. Das Banner oder die Kriegsfahne der Burgerschaft Visp wurde zugleich Zenden- und Bezirksfahne.