Das grösste und am eindrücklichsten in Erinnerung gebliebene Naturereignis, das je über Visp hereinbrach, war das Erdbeben vom 25. Juli 1855, das zweitstärkste, das in der Schweiz je registriert wurde. Glücklicherweise fiel diesem Beben in Visp kein einziges Menschenleben zum Opfer, doch sämtliche Gebäude wurden schwer beschädigt und unbewohnbar gemacht; der Turm der St. Martinskirche verlor seinen markanten Schmuck. Während des ganzen Sommers bis zu St. Martini wurden zahlreiche zum Teil ebenfalls starke Nachbeben registriert.

Dieses Bild, kurz nach dem schweren Erdbeben 1855 aufgenommen, ist eine der frühesten Fotografien von Visp. Es zeugt von den Schäden: Der berühmte Turmaufbau der St. Martinskirche war auf das Dach des Pfarrhauses gefallen. Zwischen Pfarrhaus und Altem Spittel stand damals noch ein prächtiger Stadel, ein Beweis dafür, dass Holzbauten bei einem Beben am wenigsten gefährdet waren. Ebenfalls zu sehen ist, dass das Türmchen auf dem Burgener-Haus in einer ersten Phase nicht dem Beben zum Opfer gefallen war.
© Frères Bisson, CREALP, Centre de recherche sur l’environnement alpin, Mediathek Wallis
Präfekt orientierte Staatsrat
Am Montag, 25. Juli 1855 registrierte man zwischen 1 Uhr 30 und 2 Uhr 30 nachmittags insgesamt 22 Erschütterungen in Abständen von 5 bis 10 Minuten.
Zwei Stunden nach dem ersten fürchterlichen Erdstoss schrieb Präfekt Adolf Burgener dem Departement des Innern des Wallis: «Hochgeachteter Herr Staatsrat! Ich schreibe unter einem Scherendach, weil ein ungeheures Erdbeben das arme Vispbach so verwüstet hat, dass es unkennbar ist.
Kein Haus ist unbeschädigt, Dächer viele eingestürzt, beide Kirchen mit den schönen Kirchtürmen zerstört, neue Quellen sind überall sichtbar, aber es quillt nur Elend daraus. Alle Häuser sind unbewohnt, indem fortwährend Erdstösse sich erspüren lassen, welche die beschädigten Häuser des Einsturzes bedrohen. Herr Barman und de Courten selbst, welche in der ‚Sonne‘ dem Tode bloss entgangen sind, haben sich eilends nach Brig begeben, werden unparteiisch die unglückliche Lage bestens zu schildern wissen.
Uns bleibt nur zu jammern und uns in den Willen der Vorsehung zu ergeben. Uns fehlen nun Arme, um teilweise den grossen Schaden zu ersetzen. Visp hat seit 1834, wo die eidgenössische Kammer sich wohltätig erweist, ungeachtet wir durch Wasser oft unterjocht wurden, noch nie eine Unterstützung von der Regierung erhalten. Darf man diesmal etwas verhoffen?»
Sechs Tage später, am 31. Juli 1855, wurde unter dem grossen Nussbaum auf der Matte der Witfrau Peter Indermattens ob der Wichelgasse eine Sitzung abgehalten. Das Treffen stand unter dem Vorsitz von Staatsrat Rion, dem Delegierten der Walliser Regierung. Unter anderem wurde beschlossen, für die gehörigen Subsistenzmittel und das Unterbringen der Familien Vorsorge zu treffen. Der Gemeinderat sollte ferner um die raschestmögliche Wiederherstellung der Mühlen und Bäckereien besorgt sein.
Staatsrat Barman erlebte Erdbeben in Visp
Staatsrat Barman soll also zufällig in Visp geweilt haben und in der Herberge «Sonne» einquartiert gewesen sein, als in Visp die Erde bebte. Nach seiner Abreise richtete der Präfekt ein zweites Schreiben an die Regierung, erneut unter dem Scherendach in «Winkelrieders Boden» in den Baumgärten: «Seitdem uns Staatsrat Barman heute verlassen hat, sind alle fünf Minuten heftige Erdstösse empfunden worden. Noch im Augenblick, wo ich schreibe, lässt sich einer nach dem anderen fühlen, einer stärker als der andere. Was wird aus uns werden? Auf der Abendseite rollt ein Felsen nach dem anderen herunter, im Dorf zerfällt eine Mauer nach der anderen, kein Haus mehr ist unbeschädigt und niemand darf sich in die Ruine drohenden Wohnungen begeben. Sollte die Vorsehung uns noch weiter prügeln wollen, so müssen wir die Regierung um Zelte befehlen, denn alle lagern und niemand bleibt in der Burgschaft.»
Krisenstab versammelte sich in einer Remise
Dem Protokoll des Ratsschreibers Donat Andenmatten lässt sich entnehmen, dass sich der Krisenstab in einer Remise versammelte. Ein Auszug lautet wie folgt: «Die Munizipalgemeinde von Visp versammelte sich am 26. Juli 1855 in der Remise der Frau Patienz Zimmermann, Gattin des Burgermeisters Peter Wyer von Visp, weil das schreckliche Erdbeben vom Vortag um ein Uhr nachmittags alle Wohnungen der löblichen Burgschaft unsicher machte. Daselbst versammelten sich nach gehöriger Einladung der Präfekt Adolf Burgener, der den Vorsitz hatte, der hochwürdige H. Domherr Caspar Stoffel, Supervigilant des Zehnens Visp und Pfarrer der Pfarrei Visp, der H. H. Kaplan der Burgschaft Alois Ruppen, der Vizepräsident Andreas Weissen, Vizerichter Franz Indermatten, die Ratsherren Peter Wyer, Sohn, Lorenz Tichelli, Franz Clemenz und die Mitglieder der Bürgerverwaltung (Munizipalität), als Herr Bürgermeister Moritz Andenmatten, Vizebürgermeister Peter Lochmatter, Kastlan Ignaz Lang und der gefertigte Sekretär des Munizipalrates Donat Andenmatten und Herr Kirchenvogt Peter Josef Huser.»
Der Krisenstab beschloss: «1. den Schaden der Gemeinde wertigen zu lassen; 2. eine allgemeine Steuer zu begehren; 3. die nötigen Massregeln und Reparationen zu machen, um Feuerbrünste und andere Unglücksfälle abzuwenden.»
Am 30. Juli tagte der Munizipalrat in seinem Zelt auf der Winkelriedmatte und beschloss aufgrund des fortdauernden Bebens den Bürgern zu empfehlen, sich für einige Zeit aus der verwüsteten Ortschaft zu entfernen. Zur Sicherheit des Eigentums wurde für polizeilichen Schutz gesorgt und H. Lorenz Tichelli zum Polizeichef gewählt. Das «Allerheiligste» war ins Zeltlager auf freiem Feld verbracht worden.

Haus in Visp – möglicherweise auch in Stalden –, das durch das Erdbeben im Jahr 1855 zerstört wurde. Dieses Foto gehört zu einer Gruppe von Bildern, die 1856 entstanden; es könnte sich um die ersten fotografischen Aufnahmen von Visp handeln; somit ist es auch mit Blick auf die Geschichte der Fotografie bemerkenswert. Aufgenommen wurde es von den französischen Gebrüdern Louis-Auguste und Auguste-Rosalie Bisson. Sie zählten zu den Pionieren, die sich mit der Daguerreotypie beschäftigten, dem ersten kommerziell nutzbaren Fotografieverfahren im 19. Jahrhundert.
Foto Gebrüder Bisson
Kommandant der Hilfstruppen als Augenzeuge
Major Louis Closuit, Instruktor der Walliser Milizen, die der Staatsrat nach dem Erdbeben nach Visp beordert hatte, um der Bevölkerung Hilfe zu leisten, schrieb am 30. Juli 1855 an seine Gemahlin:
«Meine Liebe, ich gebe einige Auskünfte über den erbärmlichen Zustand, in dem sich Visp befindet. Ich erfahre dies vom Präfekten, den die Angst von zu Hause weggejagt hat, sowie von einigen Depeschen an die Regierung. Nichts könnte dir eine exakte Idee von der Lage geben, in der sich die unglücklichen Bewohner dieser Ortschaft befinden.
Bereits nach den ersten Erdstössen stürzte das Gewölbe der Kirche ein und fiel der Kirchturm, strauchelten sämtliche Kamine und schliesslich wurden sämtliche Häuser unbewohnbar; alle waren sie beschädigt, sei es durch Mauerblöcke oder einstürzende Eckwände. Einige Behausungen waren zur Seite geneigt.»

Gottesdienst im Zeltlager in den Baumgärten, das der Bevölkerung nach dem Erdbeben des 25. Juli 1855 bis weit in den Herbst hinein als Unterschlupf diente. Da im Dorf selbst kein einziges Haus mehr bewohnbar war, stellten die Visper mithilfe der Kantonsregierung in den östlichen Baumgärten Zelte auf. Holzschnitt, 14 mal 24 Zentimeter.
Nicht datiert, Zeichner unbekannt, aus Bittel 1930
Volk lagerte in Zelten
Closuit fuhr fort: «Die Bevölkerung, die überstürzt aus den Häusern geflohen war, lagert in Zelten in den Baumgärten, im oberen Teil der Burgschaft. Sie hatte nicht mehr Zeit zum Mitnehmen von Bettwäsche oder Lebensmitteln. Und jetzt wagt es niemand, in die beschädigten Häuser einzudringen, um selbst dringend benötigte Gegenstände herauszuholen, denn die Beben folgen sich immer noch in unregelmässigen Abständen, wodurch die Gefahr angesichts des Zustands der Häuser stets noch grösser wird.
Während der ganzen Nacht und auch während des ganzen Tages ist in rascher Folge immer wieder ein dumpfer Lärm zu hören, gefolgt von einer Detonation, was das Entsetzen dieser unglücklichen Leute noch vergrössert.»
Trostloser Anblick
Es war ein düsteres Bild, das der Instruktor zeichnete: «Es gibt nichts Trostloseres als den Anblick dieses Obstgartens, der als Feldlager dient. Hier ist eine Mutter, die ihr Kind an sich drückt, um es vor einer drohenden Gefahr zu schützen. Etwas weiter beweint eine Familie ihren Besitz, der unter ihren Augen zunichte gemacht wird.
Am Boden, neben einem Baum, steht das Allerheiligste, der Priester, usw. Und dann, fast während des ganzen Tages und der ganzen Nacht, werfen sich 600 bis 700 Personen, Frauen, Kinder und Greise, ja jedermann, auf die Knie und beten und weinen, äussern Wünsche und erbitten sich vom Himmel ein Ende der schrecklichen Plage.
Von da an dauerten die Detonationen alle zwei bis drei Minuten bis morgens 7 Uhr fort. Den Tag über hatten wir Ruhe, bis eben jetzt, 3 Uhr nachmittags, da ich den Brief schliesse, ein ziemlich bedeutender Stoss ohne Detonation, der vielleicht eine neue Reihe unheimlicher Erscheinungen einleitet; die Luft ist schwül und wir erwarten von der nächsten Nacht nichts Gutes.
Alles trägt dazu bei, die Traurigkeit, die in diesen Örtlichkeiten herrscht, noch zu vergrössern, das Vieh, das hier und dort an den Bäumen angeheftet ist und Laute von sich gibt, kein Vogelgesang, ausgenommen die schauerlichen Schreie der Eulen und der Wiggia, die den Tod andeuten. Zu all diesem Unglück reihen sich Misstrauen, der Aberglaube und die Erinnerung an frühere Prophezeiungen, welche die Zerstörung von Visp voraussagen. Der Bischof hat sich heute hier her begeben und auch der Staatsrat hat eine Delegation hergeschickt. Adieu. Louis.»
Zeitzeuge aus Törbel
Moritz Tscheinen, zum Zeitpunkt des Erdbebens Pfarrer in Törbel, hielt in seinen Aufzeichnungen fest: «Der Schaden, den es in Visp ... anrichtete durch Zerstörung der Häuser, Kapellen, Kirchen, Ställe und Speicher, ist zur Genüge bekannt. Der grösste Schrecken herrschte ... in Visp. Unter den im Freien aufgeschlagenen Zelten hielt man – unter Aussetzung des Allerheiligsten – das 40-stündige Gebet, Tag und Nacht vorwärts, immerwährend wurde gebeichtet und die Kommunion ausgeteilt, unter geistlichem Gehorsam verboten, in den Häusern und Strassen der Burgschaft sich mehr aufzuhalten, und am 31. Juli der Papstsegen erteilt, nebst der Ermahnung, den Ort zu verlassen und sich eine andere Wohnung aufzusuchen. Obrigkeit und Bewohner liessen Haus und Habe im Stich.»
Zürcher analysierte Erdbeben
Christian Heusser machte sich im Vispertal ein Bild von den Zerstörungen und schrieb 1856 über des Erdbeben: «Ganz besonders sieht man diese Zerstörungen natürlich im Innern der Häuser, und es wird, wer hier sich umgesehen, begreifen, dass sämmtliche Bewohner von Vispach nach der ersten heftigen Wirkung den häuslichen Herd verliessen, und bei den immer fortdauernden Stössen einzig im Freien sich sicher fühlten.»

Christian Heusser hielt seine Eindrücke vom Erdbeben in Visp im Jahr 1856 in einer Denkschrift fest, die er mit vier Zeichnungen eines jungen Zürcher Künstlers illustrierte, «dessen Bescheidenheit seinen Namen hier nicht wollte nennen lassen». Den markantesten Schaden erlitt der majestätische Turm der St. Martinskirche, dessen Aufsatz mit Rippenhelm auf das darunter stehende Pfarrhaus fiel und dessen Dach zertrümmerte. 1856 erhielt der lädierte Kirchturm ein provisorisches Satteldach. Das Burgener-Haus steht bereits ohne Türmchen da, obwohl es beim Erdbeben zunächst stehen geblieben war.
In Heusser 1856
Arzt zur Zeit des Erdbebens
Anton Andenmatten wirkte zur Zeit des Erdbebens 1855 als Arzt in Visp.
Wieder in den Häusern
Am 6. Oktober 1855 schrieb der «Anzeiger von Rhein» zum Erdbeben in Visp: «Seit drei Wochen wohnen die Visper wieder in ihren Häusern.»
Hilfe mit Naturalien
Am 19. Januar 1858 stellte Pfarrer Studer von Visperterminen dem Präfekten Adolf Burgener eine Liste der dortigen Erdbebengeschädigten zur Verfügung, aber auch von jenen im übrigen Bezirk, die von den verteilten Liebesgaben erhalten hatten, sei es Geld oder Brot, Weizen, Korn, Märweiz (Mais), Erdäpfel, Käse, Fleisch, Wolle, Kleidungstücke und anderes.
Visper Beben interessierte sogar in Deutschland
In Grächen war das einzige Opfer des Erdbebens im ganzen Oberwallis zu beklagen: Ein 4-jähriges Kind wurde unter einer herabstürzenden Mauer begraben.
Zum Zeitpunkt des Bebens weilte auch ein deutscher Reisender in Grächen, der später in der deutschen Zeitung «Offenheimer Nachrichten» als Augenzeuge die Folgen der Naturkatastrophe schilderte: «Aus der Schweiz, 31. Juli: Immer noch gehen betrübende Nachrichten über die Verheerungen des Erdbebens vom 25. bis 28. des Monats im Kanton Wallis, namentlich im dortigen St. Niklausthal und in Visp, an der Mündung desselben in das Rhonethal, ein. Die Simplonstrasse selbst soll, wie der Weg durch das Niklausthal, mehrere Risse bekommen haben. In letzterem Thale und in Visp war der 26. Juli für die Bewohner noch schrecklicher als der vorhergegangene Tag. Die Erschütterungen waren zwar weniger stark als am 25., berichtete ein Augenzeuge, aber ihre Wirkung war dennoch eine weit heftigere. Die durch die Stösse des 25. schon zerrissenen oder halb umgestürzten Häuser vermochten am 26. keinen Widerstand mehr zu leisten.»
«Auf dem Wege nach Visp traf ich den Geistlichen von St. Niklaus an, ohne Hut, am Kopf und einem Knie verwundet. Doch wir durften uns nicht aufhalten, die ganze Länge der Strasse war mit tiefen Rissen, zusammengestürzten Mauern und grossen Felsblöcken bedeckt und jeden Augenblick ertönte neues Getöse, fühlten wir neue Stösse. Endlich langte ich in Stalden an, auch hier die nämliche Erscheinung.»
Landstrasse verschwunden
Dem dramatischen Bericht ist weiter zu entnehmen: «200 Schritte von da war die Landstrasse verschwunden, und ich verfolgte meinen Weg wie ich konnte nach Visp. Im Ganzen verspürte man 22 stärkere und schwächere Erderschütterungen. Am 25. Juli bemerkte man die in Zwischenräumen von 5 bis 10 Minuten erfolgten Erdstösse von 1¼ bis 2½ Uhr nachmittags. Während dieser Zeit stürzten von vielen Bergen grosse Steinbrocken herab. Die Erdrisse erstreckten sich durch das ganze St. Niklausthal und von Turtmann bis über Brieg hinaus, gegen den Simplonübergang.»
Erdbeben liess Quellen versiegen
Am 16. August 1855 zeigte der Gemeindepräsident von Ausserberg an, dass innerhalb von wenigen Stunden sämtliche Quellen versiegt waren. Es bestehe die Gefahr, meldete er, dass man den Berg verlassen müsse. Auch in Terbinen, vor allem in Oberbrunnen und Unterbrunnen, versiegten Quellen.
Nachbeben Ende Oktober
Der Korrespondent der «Oppenheimer Zeitung» weilte Ende Oktober, also drei Monate nach den ersten Beben, wieder in Visp. Zusammen mit der schwer geprüften Bevölkerung erlebte er hier erneut fürchterliche Tage und Nächte, denn es war wieder zu Nachbeben gekommen: «Aus der Schweiz, 1. November: Über das neueste Erdbeben zu Visp schreibt man von dort das Folgende unter dem 28. Oktober: Während der vier ersten Tage der verflossenen Woche hatten wir gar nichts mehr von den unheilvollen Naturerscheinungen verspürt, die unserem Ort und der Gegend eine so traurige Berühmtheit verschafft haben, und schon begannen wir alle freier aufzuathmen.
Die Freude sollte nur kurz dauern, denn schon am Donnerstag, den 25. des Monats, abends 9 Uhr, verkündeten uns zwei binnen einer Minute erfolgte Stösse, dass das Ziel unserer Bekümmernis noch nicht erreicht sei. In der Nacht vom Freitag auf den Samstag erhob sich ein Föhnwind und tobte furchtbar vom Tal herab.
Gestern 10 Uhr vormittags begann dann ein heftiger, fast tropischer Regen, welcher ununterbrochen bis heute früh andauerte und im Begleit von Gewittern und Erdbeben uns die letzte Nacht wieder zu einer der schreckenvollsten gemacht hat. Um 1½ Uhr früh begann das traurige Schauspiel mit zwei starken Donnerschlägen und Blitzen. Um 2 Uhr folgten binnen zwei Minuten zwei Erdstösse und eine unterirdische Detonation, und von diesem Moment an trat alle zwei bis drei Minuten eine Detonation ein bis 2¾ Uhr, zu welcher Stunde diese plötzlich durch einen geräuschlosen aber so heftigen Erdstoss abgelöst wurden, dass Schauer und Schrecken in alle Glieder fuhr und die ganze Bevölkerung des Orts aus den Wohnungen eilte, um draussen im strömenden Regen die Nacht zu verbleiben.
Kaum war dieser Stoss vorüber, so begannen wieder einige Detonationen, um 3 Uhr gefolgt von einem neuen heftigen Stoss, und von da an dauerten die Detonationen alle zwei bis drei Minuten bis morgens 7 Uhr fort. Den Tag über hatten wir Ruhe, bis eben jetzt, 3 Uhr nachmittags, da ich den Brief schliesse, ein ziemlich bedeutender Stoss ohne Detonation vielleicht eine neue Reihe unheimlicher Erscheinungen einleitet; die Luft ist schwül und wir erwarten von der nächsten Nacht nichts Gutes.
Machen Sie sich danach einen Begriff, in welcher bedauernswerthen Lage wir schweben, jetzt vollends, da der Winter mit aller Macht heranrückt! Die guten Visper, die noch eben glaubten frischen Muth fassen und mit heiterem Auge in die Zukunft blicken zu dürfen, sind aufs Neue niedergeschlagen. Sie ergeben sich aber mit frommem Sinn in den unerforschlichen Willen Gottes und beten zu ihm, dass er unsere Mitleidgenossen vor ähnlichen Schrecken bewahren und ihnen die so hochherzigen Hilfeleistungen, mit welchen sie unsere Noth zu lindern bemüht sind, tausendfältig vergelten möge.»
Broschüre für Erdbebenopfer
Gut drei Monate nach dem grossen Beben, am 6. November 1855, erstattete Domherr Rion Bericht über das Erdbeben in Visp und St. Niklaus, als Feuilleton im «Courrier du Valais». Davon sollten 2 000 Exemplare als Borschüre hergestellt und an alle Opfer abgegeben werden.
Schäden von 217 000 Franken in Visp
Obwohl die Erde in Visp auch nach dem 25. Juli immer wieder bebte und am 13. August sogar ein überaus starker Erdstoss die bereits verängstigte Bevölkerung in Schrecken versetzte, waren die kantonalen Schatzungskommissionen bereits Mitte August am Werk.
Der Bezirk Visp war am stärksten betroffen. In Visp, wo kein einziges Haus bewohnbar geblieben war, bezifferten die Experten Antonioli, Zossi, Baldini, de Torrenté und Vizepräsident Weissen den Gesamtschaden auf einen Betrag von 217 050 Franken. In St. Niklaus, dem am zweitstärksten betroffenen Ort, wurden Schäden im Betrag von 49 920 Franken ermittelt, in Visperterminen kam man auf 3 580 Franken, in Eyholz auf 2 910 Franken, in Baltschieder auf 2 230 Franken und in Lalden auf 2 040 Franken.
Finanzielle Hilfe aus der ganzen Schweiz
Rasch regten sich hilfreiche Hände: Der Staatsrat ernannte ein kantonales Hilfskomitee mit Staatsratspräsident de Sépibus, Domherr Rion und Ferdinand von Torrenté, Stadtpräsident von Sitten. Diesem Komitee flossen bald Hilfsgelder aus der ganzen Schweiz zu, um die grösste Not zu lindern; unter anderem spendeten auch Auslandschweizer, namentlich die Schweizergarde.
Die schweizweit durchgeführte Sammlung ergab einen Betrag von fast 150 000 Franken, für damalige Verhältnisse eine beachtliche Summe. Die Hilfe für die Erdbebenopfer zeugte davon, dass das eidgenössische Zusammengehörigkeitsgefühl acht Jahre nach dem Sonderbundskrieg und sieben Jahre nach der Gründung des Bundesstaates – wenigstens in der übrigen Schweiz – bereits vorhanden war.
Hilfsgelder für die betroffenen Gemeinden
Von den zugunsten der Geschädigten gesammelten Geldern wurden 92 673 Franken auf die betroffenen Gemeinden aufgeteilt, dies entsprechend den festgestellten Schäden: Visp 44 605 Franken, St. Niklaus 27 802 Franken, Stalden 9 043 Franken, Visperterminen 4 206 Franken, weiter Eyholz 1 671 Franken, Baltschieder 1 316 Franken, Grächen 1 245 Franken, Lalden 968 Franken, Embd 788 Franken, Zeneggen 545 Franken, Törbel 484 Franken,.
Am Mannenmittwoch von 1855 musste Regierungsstatthalter Burgener intervenieren, damit die Wohltätigkeitsgelder den Erdbeben-Geschädigten zugeführt wurden. Gründe dafür wurden nicht festgehalten.
Noch am 1. September 1860 bestand Statthalter Burgener darauf, den Erlös der Steuern zur Unterstützung der Erdbeben-Geschädigten zu verwenden.
Visp ein Jahr später noch schwer gezeichnet
Ein Jahr nach dem Erdbeben kam ein Besucher nach Visp, der sich die Folgen des Erdbebens ansah und seine Beobachtungen festhielt: «Hier in Visp war der Zentralpunkt, an dem sich das grosse Erdbeben vom 25. Juli 1855 in der grössten Heftigkeit spürbar machte und am längsten anhielt. Jetzt noch, da wir dies schreiben, hat die Erde noch nicht Ruhe gegeben. Die armen Bewohner sind immer noch in Angst über die Dinge, die sich noch ereignen könnten. Infolge dieses Erdbebens ist kein einziges Haus mehr bewohnbar. Mit Ausnahme von vier bis fünf sind alle vormals aufrechtstehenden jetzt Ruinen.
Die Zerstörung in der untern Kirche scheint durch den Umstand bedeutender, als dass die Trümmer des Gewölbes immer noch im Schiff herumliegen. Dicke Eisenbänder hängen ohnmächtig herunter, indessen Dutzende geknickte Orgelpfeifen ‚regungslos‘ in den finstern Raum hineinstarren.
In der obern Kirche sind die Trümmer der Decke sowie diejenigen des gefallenen Turmes geräumt und sind am Eingang des Portales als redende Zeugen irdischer Hinfälligkeit und Ohnmacht aufgeschichtet.»

Nicht nur der Turm, auch das Schiff der St. Martinskirche wurde vom Erdbeben schwer getroffen, als die losgelöste Decke herunterfiel. Beschädigt wurden auch die Gebäulichkeiten unterhalb der Arkaden auf der Westseite der Kirche. Da die Ruine des oberen Teils des Turms leck geworden war und bei Unwetter der untere Teil überschwemmt wurde, musste rasch ein Dach her: Im Frühjahr 1856 befreite man den Turm vom Schutt und baute aus Sicherheitsgründen ein provisorisches Satteldach. Es blieb während mehr als 40 Jahren bestehen, wobei schon 1871 eine Erneuerung nötig war.
Fotograf unbekannt, zVg
Ganze Pfarrei stellte Arbeiter für Kirchenrenovation
Am 7. Oktober 1855 ernannte der Kirchenrat eine Kommission von Fachleuten, welche die allernotwendigsten Reparaturen der Schäden anordnete. Die Arbeiten führte der Siderser Maurermeister Bottini aus; er sollte sie im Taglohn leisten.
Am 30. Januar 1856, also ein knappes halbes Jahr nach dem Erdbeben, wurde die Sanierung der Pfarrkirche beschlossen. Die Renovation wurde beschleunigt. Visp und Unterstalden leisteten drei Wochentage Arbeit, Eyholz, Lalden und Baltschieder je einen.
Der Kirchenrat liess den zerstörten Turm der St. Martinskirche mit einem provisorischen Satteldach versehen. Das Provisorium sollte Jahrzehnte dauern. 1871 wurde das Dach erneuert. Dennoch schritt die Zerstörung voran und liess eine Katastrophe befürchten. Nicht nur war die prächtige Kuppel im oberen Teil völlig zerstört. Auch der Teil des Mauerwerks, der direkt an die Kuppel anschloss, wies Risse und Spalten auf, durch die Regen- und Schmelzwasser eindringen konnten.
Teilweise wurden diese Auslagen der letzten Kirchenreparatur durch ein Legat von 10000 Franken der Familie Bilgischer sowie die Einnahmen eines Lottos der Jungfrauen-Kongregation im Betrag von 1 200 Franken gedeckt.
Kirche wieder ausstaffiert
Am 2. November 1856 beschloss der Kirchenrat den Bau einer neuen Orgel sowie die Erstellung neuer Kirchenbänke. Auch in der Folgezeit schufen die Visper eine ganze Reihe von Werken, welche den Opfersinn der Bevölkerung bekunden. Man schaffte 1866 zwei neue Glocken an, legte 1872 einen neuen Kreuzweg an und liess von F. X. Marmon aus Sigmaringen den Herz-Jesu-Altar mit einem Gemälde von P. Deschwanden errichten.
1875 gab es zwei erfreuliche Geschenke von Ortspriestern: Kaplan Tschieder schenkte ein kunstvoll gesticktes Messgewand im Wert von 1 300 Franken und Pfarrer Tantignoni ein solches im Wert von 500 Franken. 1882 erfolgte die Restaurierung des Hochaltars und des Taufsteins. 1898 wurde unter der Einsiedelei im Westen eine grosse Stützmauer errichtet, an die der Bund 1 591 Franken beisteuerte.
Pfarrhaus wieder aufgebaut
Am 30. Januar 1856 beschloss der Munizipalrat die Reparatur beziehungsweise den Wiederaufbau des beim Erdbeben beschädigten Pfarrhauses. Er ging davon aus, dass dies in seiner Kompetenz lag und zu seinen Pflichten gehörte. Die Kompetenz lag allerdings beim Kirchenrat, dem jedoch von Amtes wegen sämtliche Gemeinderäte angehörten. 1857, zwei Jahre nach dem Erdbeben, beschloss die Urversammlung, das Pfarrhaus, das damals fast gänzlich zerstört worden war, wieder aufzubauen.
Baulinie für Wiederaufbau vorgegeben
Bezüglich Überbauung der Siedlung Visp wurden um 1870 vonseiten der Baufachleute folgende Vorschriften empfohlen: «Die neuen Bauten sind so anzuordnen, dass alle langen Mauern von Norden nach Süden gerichtet würden, das heisst in etwa parallel zum Vispertal und in der Richtung des Hauses Clemenz, und dass Böden und Decken im rechten Winkel stehen.»

1897 wurde die St. Martinskirche mit dem heutigen «Zeltdach» versehen, nachdem das provisorische Satteldach seit 1856 seinen Dienst getan hatte. Während gut 40 Jahren hatte man die Wiederherstellung des ursprünglichen Turms erwogen. 1897 entschieden Fachleute der Universität Lausanne zugunsten des Zeltdachs. Das Bild zeigt die Bauarbeiten am Fuss des Turms kurz vor der Jahrhundertwende; diese führten Arbeiter des Siderser Unternehmers Valentini aus.
Fotograf unbekannt, erschienen in Fux 1996, zVg/Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Bern
«Kuppelbau beiseitelassen!»
1895 zogen die Visper die Schweizerische Gesellschaft für Erhaltung historischer Kunstmäler bei. Deren Architekt, der Lausanner Theo van Muyden stellte in seinem Gutachten fest, dass der einstige Kuppelbau der Martinskirche beiseitezulassen sei. So brachte der Unternehmer F. Valentini von Siders 1897 unter der Leitung von Architekt Bossey, Aigle, das heutige Dach an. Die Gesamtkosten beliefen sich auf 11 316.70 Franken, wovon die Hälfte durch einen Bundesbeitrag gedeckt wurde.
Auch anfangs des 20. Jahrhunderts nahmen die Reparaturen kein Ende. Zuerst wurde das Kirchendach saniert und das Innere der Kirche geweisst. Die Kosten von 4 000 Franken für die Erstellung der gemalten Kirchenfenster durch die Zürcher Firma Bärbig konnten durch ein grosszügiges Legat von Magdalena Burgener gedeckt werden.
Walter Ruppen sah van Muydens Intervention kritisch: Das heutige Zeltdach bedeute eine erhebliche Schwächung der im übrigen aussen intakten barocken Westpartie der Kirche. Bei einem Wiederaufbau der Laterne würde die Kirche bei den wirkungsvollen Sichten von Nordwesten, Westen und Südwesten erneut als barockes Bauwerk in Erscheinung treten, was es in all den von diesen Standorten aus sichtbaren Teilen – ausser im Turmabschluss – ja immer noch sei. Heute gleiche das Bauwerk einem Schiff, das unter falscher Flagge fahre. Theo van Muyden habe mit seinem romanisierenden Zeltdach ein in der Landschaft völlig fremdes Motiv eingeführt, das auf den barocken Charakter des Bauwerks keine Rücksicht nehme und dem unbestrittenen Willen des Erbauers, ein Wahrzeichen zu setzen, in keiner Weise mehr Rechnung trage. Sehr aufschlussreich sei in diesem Zusammenhang eine Betrachtung der Kirche bei Nacht. Von schräg unten herauf angeleuchtet, erscheine der Glockenturm – im Gegensatz zur Burgerkirche – wie ein dachloser oder unvollendeter Turmschaft.
Ruppens Erachtens ist formale Ausserordentlichkeit eines untergegangenen Motivs bis zu einem gewissen Grad durchaus ein Grund für seine formale Wiederherstellung mit neuer materieller Substanz. Ob man bei einer Zerstörung der Stockalpertürme durch eine Katastrophe diese nicht wiederherstellen würde, fragte Ruppen und wies lobend auf den wieder aufgebauten Turm des Burgenerhauses kaum 100 Meter daneben.

200 Jahre lang krönte dieser majestätische Aufbau den einzigartigen Turm der St. Martinskirche Visp; je nach Messpunkt soll der Rippenhelm zwischen 12 und 15 Meter hoch gewesen sein. Am 25. Juli 1855 wurde er durch das Erdbeben auf Glockenturmhöhe losgerissen. Bittel hielt 1930 in der Legende zu dieser Darstellung fest: «Einzig richtige Wiedergabe des Kirchturmes der St. Martinskirche vor dem Erdbeben». Eine Fotografie gibt es nicht. Die Zeichnung von 1829 stammt von Samuel Prout, gestochen hat sie R. Brandard.
Aus Bittel 1930
Kein Wiederaufbau des Rippenhelms
Ende der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts bediente ein von alt Visp begeistertes Quartett – Anton Ceppi, Sepp Müller, René Pianzola und Alex Wyer – den Verein «Iischers Visp» mit einer umfassenden Dokumentation, um den Wiederaufbau des Rippenhelms zu erreichen. Der Verein leitete das Dossier an die kantonale Denkmalpflege weiter. Diese holte ihrerseits ein Gutachten bei der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege ein, welches dann für die Sache entscheidend sein sollte. Kommissionspräsident Professor Dr. Alfred Schmid befasste sich persönlich damit. Im Gutachten stellte er die Frage: «Ist der heutige Bauzustand des Turms ein störender Eingriff? Wir meinen nein. Zweifellos hat die Visper Bevölkerung den Verlust des Rippenhelms nach 1855 überaus bedauert und deshalb den Lausanner Architekten Theo van Muyden (1848–1917) um eine würdige Lösung gebeten, wohl weil dieser damals Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege war. Besteht eine funktionelle Notwendigkeit für diesen Wiederaufbau? Eine solche ist von keiner Seite zu erkennen. Das wahrscheinlich auf den verschwundenen Turmaufsatz hin komponierte Glockengeschoss mit seinen Zwillingsschalllöchern, die durch Doppelsäulen getrennt waren, dürfte dem Architekten van Muyden 1895 sehr gut gefallen haben. Die Spätrenaissancenformen erinnern an Oberitalien. Die Massigkeit des Turms liess sich romanisch interpretieren. Damit verschaffte sich van Muyden ‘freie Hand’, den Turm nach seinen Vorstellungen ‘modern’ zu gestalten. Zusammenfassend möchten wir darauf hinweisen, dass die Turmlösung von 1895 einen eigenen Wert besitzt, der nicht achtlos vernichtet werden darf. Will man den entsprechenden Darstellungen Glauben schenken, muss nach dem Erdbeben von 1855 das untere Geschoss des Aufsatzes noch bestanden haben. Da es weit muraler gehalten gewesen sein muss als das obere, scheint das gar nicht so abwegig. Dennoch muss es nach dem Beben noch abgetragen worden sein.»
Er fasste zusammen: «Der Kirche, so wie sie sich heute präsentiert, fehlt ohne den zerstörten Turmaufsatz nichts. Die Form des heutigen Turmabschlusses entspricht einem Gestaltungswillen. Selbst die Zerstörung eines Bauwerks durch höhere Gewalt gibt noch keinen zwingenden Grund, dieses Bauwerk wieder zu errichten. Besonders, wenn unterdessen 140 Jahre vergangen sind. Das vorgelegte Projekt scheint nicht angetan, eine befriedigende Lösung zu ergeben. Vor allem aus diesen drei Gründen meinen wir, sei auf das Bauvorhaben zu verzichten und die St. Martinskirche in Visp so zu akzeptieren, wie sie sich heute präsentiert – als Bauwerk mit ganz eigener Geschichte.»
Damit mussten sich die Visper wohl endgültig damit abfinden, dass der markante Rippenhelm wohl nur noch auf Stichen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterbestehen wird.
Das letzte Bild vor dem Erdbeben
Die nachfolgenden Generationen werden vor allem durch verschiedene Zeichnungen des Kirchenturms an die Katastrophe erinnert. Die letzte Zeichnung vor dem Beben entstand am 27. Mai 1852. An diesem Tag wanderte der 26-jährige Josef-Viktor Scheffel, der ursprünglich Maler werden wollte, das Rhonetal flussaufwärts. Scheffel ist aufgrund seines Erstlingswerks «Der Trompeter von Säckingen, ein Sang vom Oberrhein» und als Dichter von Studentenliedern bekannt. Er war von Deutschland nach Italien unterwegs und war über Bern und den Gemmipass ins Wallis gelangt. Auf seiner Wanderung von Leuk herauf, an der Burgkirche von Raron vorbei, traf er unter Einlegung mehrerer Zeichenpausen in Visp ein. Dort nahm er Quartier im Gasthaus Sonne.
Auf seiner Zeichnung vermerkte er handschriftlich: «Visp am Eingang in die Thaeler des Monte Rosa/Balufrin/Saaser Gletscher. Wallis.» Die Zeichnung ist derjenigen, die der Engländer John Ruskin acht Jahre zuvor geschaffen hatte, ähnlich – vor allem auch in der Umgebung der Pfarrkirche. Deshalb kann man davon ausgehen, dass der Turmaufsatz so aussah, bevor er drei Jahre später dem Erdbeben zum Opfer fiel. Eine Fotografie des majestätischen Rippenhelms der St. Martinskirche existiert nicht.

In der Übersicht über die Erdbebengefährdung in der Schweiz stechen das Wallis und Basel als stark gefährdete Gebiete heraus. In Basel kam es 1356 zum schwersten Erdbeben der Schweiz. Das andere, bedeutend grössere Gebiet, in dem mehrmals heftige Erdstösse zu verzeichnen waren, ist das Wallis, wo es 1855 in Visp und im Vispertal stark bebte; als Epizentrum wurde Törbel ausgemacht. Der Punkt, von dem das Erdbeben ausging, lag 12 Kilometer unter der Erdoberfläche.
Erdbebenzonen SIA 261 © Swisstopo, BAFU, geo.admin.ch
Visp in Erdbeben-Gefährdungszone
Die neue Erdbeben-Gefährdungskarte von 2004, die jene aus dem Jahr 1978 ersetzte, ist das Ergebnis 10-jähriger Forschungstätigkeit. Für das Wallis ist das Ergebnis wenig erfreulich, korrigierten die Forscher doch das Erdbebenrisiko im Kanton nach oben, und zwar im ganzen Tal. So ist das Risiko für ein Erdbeben im Oberwallis viermal grösser als im Kanton Tessin. Ein Grund zur Panik besteht jedoch nicht.
Visp liegt in der Gefährdungszone mit der grössten Seismizität, das heisst Häufigkeit und Stärke der Erdbeben eines Gebiets. In dieser Zone wird ein Erdbeben der Intensität 7 bei einer Wiederkehrperiode von 400 Jahren angenommen. Das Wallis ist ein erdbebengefährdeter Kanton, weil im Walliser Alpenbogen die tektonischen Platten Europas und Afrikas aufeinandertreffen. Seit dem 18. Jahrhundert lag das Epizentrum der stärksten in der Schweiz verspürten Erdbeben im Wallis, selbst wenn sie jenseits der Kantonsgrenzen wahrgenommen wurden. Bei 15 der 31 stärksten Beben in der Schweiz mit «leichteren und mittleren Folgen» war der Kanton am Rotten betroffen; zu einer Katastrophe nach Erdbeben-Massstäben kam es nie.
Am 9. Dezember 1755 hatte ein Beben mit der Stärke 6 auf der Richterskala das Oberwallis mit Epizentrum in der Region Brig-Visp erschüttert. Noch stärker war das Beben, das sich genau hundert Jahre später mit demselben Epizentrum ereignete, welches die erwähnten schweren Schäden anrichtete, jenes von 1855 im Gebiet Stalden-Visp; es wurde mit 6,4 Punkten registriert und ist so das zweitstärkste in der Geschichte der Schweiz (Grad 9 der heute angewandten Intensitätsskala von 1 bis 12). Ein halbes Jahrtausend vor dem grossen Visper Beben, 1356, hatte sich in Basel das schwerste Erdbeben ereignet, das die Schweiz je erschütterte; Fachleute gehen von 6,6 Punkten auf der Richterskala aus.
Weitere Erdstösse verzeichneten Ardon 1524 (5,8 Punkte), Aigle 1584 (5,9 Punkte), Unterwalden 1601 (5,9 Punkte), Agarn 1685 (5,3 Punkte), Brig-Naters 1755 (5,7 Punkte) und Siders/Wildstrubel 1946 (5,8 Punkte).
Die Forschung geht weiter. Der Erdbebendienst ist verpflichtet, die Einschätzung der seismischen Gefährdung in der Schweiz laufend zu überarbeiten, um damit zu einer verbesserten Kenntnis der zu erwartenden Erdbeben beizutragen.
Die Geologen Montandon und Staub hatten 1946 die historisch feststellbaren Erdbeben im Wallis in chronologischer Reihenfolge veröffentlichten. Schon 1295 war ein starkes Erdbeben festgestellt worden. Es folgten Beben in den Jahren 1382, 1394, 1552, 1572, 1633, 1684, 1746, 1755, 1788, 1827, 1830, 1837 und dann 1855.
Was wäre heute, 160 Jahre später?
Würden sich Erdbeben wie jene von Basel und Visp heute ereignen, könnten in der Region Basel Schäden von 40 Milliarden Franken entstehen, in Visp und im Vispertal solche in der Höhe von 5 Milliarden Franken; dies kann dem «Berner Hydrograph» vom Dezember 1999 entnommen werden. Es wären also Schäden in einem Ausmass zu erwarten, welche die Regenerationsfähigkeit eines einzelnen Kantons klar überschreiten würden.
Eine andere Schätzung von Experten ergab, dass ein Erdbeben wie jenes von 1855 heute im ganzen Kanton Schäden an Bauwerken in der Grössenordnung von 12 Milliarden Franken verursachen würde. An 35 Prozent der Immobilien würden Schäden angerichtet.
Sogar das Beben von 1946 mit Grad 8 von 12, das im Mittelwallis am intensivsten wirkte und auch in Visp heftig verspürt wurde, würde heute im Gebiet Siders-Sitten einen Schaden von 1,2 Milliarden Franken anrichten.
Die Rückversicherung interessiert es natürlich, welche Schadensumme die Versicherung im Fall eines erneuten Erdbebens in der Grössenordnung von 1855 decken müsste. Im schlimmsten aller Fälle – eher unwahrscheinlich – wäre eine Versicherungssumme von 8,72 Milliarden Franken zurückzuerstatten.
Der Seismologe Dr. Donat Fäh von der ETH Zürich kommt aufgrund der intensiven Erdbebenforschungen in den vergangenen Jahren zum Schluss: «Eine Wiederholung eines der stärkeren Erdbeben der Vergangenheit würde heute Schäden in Milliardenhöhe anrichten. Und was sollten die Menschen tun, falls die Erde – vor was uns die göttliche Vorsehung bewahren möge – tatsächlich einmal beben sollte? Die Kombination aus sich wiederholenden Erdbeben und der sich stetig vermehrenden Bausubstanz führt zu einem ständig wachsenden Schadenpotenzial. Schutzbedürftige Elemente sind dabei speziell Ortschaften, grosse Staudämme, Kommunikationsinfrastruktur, hochtechnisierte Industriebetriebe sowie Schulen und Spitäler.»
Kantonale Erdbebentagung
2019 befasste man sich an der kantonalen Erdbebentagung ausschliesslich mit dem Beben, das 1946 vor allem im Mittelwallis Schäden angerichtet hatte, aber bedeutend schwächer gewesen war als jenes, das Visp 1855 erschütterte.
Der Simulator zeigte, was eines Tages bitterer Ernst sein könnte: Bei einem künftigen Beben in der Stärke desjenigen von 1946 müsste man heute mit über 20 000 Verletzten rechnen. Über 90 000 Menschen – mehr als das Oberwallis Einwohner zählt – würden eine Unterkunft benötigen.
An dieser Tagung wurde auch dringend die Erdbebenversicherung empfohlen. Im Wallis war 2019 bereits jedes vierte Haus entsprechend versichert.
Vorbeugen mit baulichen Massnahmen
Auch wenn das Oberwallis in den letzten 160 Jahren von zerstörerischen Erdbeben verschont geblieben ist, kann nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden. Die Experten bezeichnen die Ruhe der Erde als trügerisch.
Wer soll dieser Gefahr nun Rechnung tragen und wie? Bei Erdbeben kann der Mensch nur in der Wirkungszone desselben eingreifen. Deshalb ist technisch gesehen der Schutz der Objekte die einzige Möglichkeit, die Auswirkungen zu dämpfen. Erdbeben lassen sich nicht verhindern, man kann sich aber heute besser darauf vorbereiten, indem man die Gebäude so dimensioniert, dass sie den zu erwartenden Erschütterungen auch standhalten.
Der Bund hat auf die Ergebnisse entsprechender Studien bereits mit Vorschriften für erdbebensicheres Bauen reagiert. Sie wurden für alle Bundesbauten für obligatorisch erklärt. Für kantonale und private Bauten sind diese Normen allerdings nicht verbindlich. Dies will der Bund jetzt auf alle Kantone ausdehnen, auch für private Bauten. Die Mehrkosten werden auf lediglich ein Prozent der Bausumme geschätzt.
Seit 1989 werden die Erdbebenvorgaben der SIA bei allen Neubauten berücksichtigt und bei Renovationen von Altbauten wird jede Gelegenheit genutzt, um Verbesserungen im Sinn dieser Vorgaben vorzunehmen. So lernen Bauingenieure, bestehende Gebäude auf Erdbebensicherheit zu überprüfen. Mit neuen Verfahren lassen sich nämlich die Erdbebensicherheit von Altbauten ermitteln und die Verhältnismässigkeit von allenfalls notwendigen baulichen Massnahmen beurteilen.
Sollte sich tatsächlich wieder einmal ein starkes Beben ereignen, sollte man nicht einfach ins Freie rennen, sondern am besten unter einem Tisch oder in einem Türrahmen Schutz suchen. In Visp würden die einstigen Baumgärten nicht mehr als Zuflucht zur Verfügung stehen; sie sind in der Zwischenzeit massiv überbaut worden.
Der mutige Joseph Tantignoni
Beim grossen Erdbeben von 1855 leistete Joseph Tantignoni, seit 1849 Kaplan in Visp, einen geradezu heldenhaften Einsatz, der sogar von höchster Stelle Anerkennung und Lob fand. Wohl nicht von ungefähr wurde er dann Pfarrer von Visp. Er sollte dieses Amt bis 1893, also 37 Jahre, innehaben. 1896 starb er in der Nähe von Domodossola. Tantignoni war von St. Niklaus nach Visp gekommen.
Schriften im zerstörten Turm vermutet
1868, 13 Jahre nach dem grossen Erdbeben, stand der Turm der St. Martinskirche immer noch ohne festes Dach da. Es wurde beantragt, den Turm zu besteigen, um Schriften, die sich laut einer Sage darin befanden, herauszuholen.
Liegenschaften versteigert
Am 11. Oktober 1855 kamen in Visp in der Folge eines Konkurses eine ganze Reihe von Liegenschaften zur öffentlichen Versteigerung. Diese ergaben Einnahmen von 2 178 Franken, sodass die Schulden in der Höhe von 1 954 Franken gedeckt waren. Der Schuldner wurde nicht aufgeführt.
Wald im Rittergut versteigert
Am 15. Juni 1856 wurde ein Wald oberhalb des Ritterguts der Geschwister Zimmermann waisenamtlich versteigert.