Abenteuerlicher Teilungsplan Napoleons: Visper als Franzosen, Rarner als Schweizer
Die Ereignisse im unruhigen Zeitabschnitt, der mit der Revolution in Frankreich begann und mit der schweren Niederlage Napoleons von Waterloo 1815 sein Ende fand, zeigen, wie gierig die französischen Machthaber auf das Wallis mit seinen Alpenpässen blickten und wie sich das Schicksal des Tals am Rotten je nach ihren wechselnden Plänen und Entscheiden entwickelte.

Napoleon wollte das Wallis teilen, um über den Simplon verfügen zu können. Bei einer Variante wäre das Gebiet südlich des Rottens mit Orten wie Monthey, Saint-Maurice, Martigny, Visp, Glis und Brig zu Frankreich geschlagen worden. Das verbleibende nördliche Ufer mit Sitten, Siders, Leuk, Raron, Baltschieder, Naters und dem Goms wäre bei der Schweiz geblieben.
© Peter Salzmann
Linke Hälfte des Wallis französisch?
Nachdem 1798 französische Truppen die Schweiz besetzt hatten, bemühte sich Frankreich beziehungsweise Napoleon ab Ende 1800 bis Frühling 1802 vergeblich um die Abtretung des Wallis bis Brig oder wenigstens des linken Rottenufers. Schon zwischen der Vereinigung des Wallis mit Helvetien und dem 19. August 1798, als sich die Schweiz unterwerfen musste, hatte Frankreich die Abtretung des linken Rottenufers verlangt. Das helvetische Direktorium konnte diese Forderung jedoch rückgängig machen.
Napoleons Leute unternahmen in Verhandlungen, die Frankreich immer wieder provozierte, alles, um sich den Weg zum Simplon und nach Italien freizuhalten – um jeden Preis. Je nach Stand der Dinge wurden die verschiedenen Forderungen und Varianten wiederholt in die Diskussion eingebracht: Das ging von der Übernahme des ganzen Wallis bis Brig über die Übernahme des gesamten linken Rottenufers auf der ganzen Länge bis zur Übernahme des Strassentrassees auf der gesamten Länge, womit ja das Land ebenfalls brutal halbiert worden wäre. All diese Trennungen waren völlig «unnatürlich» und wären in der Praxis bestimmt nur schwer zu realisieren gewesen. Aber jede der Varianten hätte dem Herrscher gepasst, um sein Ziel zu erreichen.
Geradezu unglaubliche Folgen für die Walliser Bevölkerung und damit auch für Visp hätte die Variante gehabt, wonach nur das linke, südliche Rottenufer zu Frankreich gekommen wäre. Anfangs März 1801 schien die französische Diplomatie, die bis dahin das ganze Wallis bis Brig begehrt hatte, auf diesen Vorschlag einlenken zu wollen. Am 18. Mai erteilte Bern dem helvetischen Geschäftsträger in Paris die Vollmacht, das linke Ufer abzutreten. Gemäss den beigefügten Instruktionen erfolgte die Abtretung des linken Rottenufers bis Brig an Frankreich unter den nachstehenden Bedingungen:
- Dass auf dem linken Ufer keine Eindämmungswerke gebaut wurden, welche den Strom gegen das rechte Ufer hätten werfen können.
- Falls möglich, sei die Schifffahrt für beide gestattet.
- Den Einwohnern des abgetretenen Landesteils, also auch Visp, solle Meistbegünstigung zuteilwerden.
- Dass es jedem, der Grundstücke auf beiden Seiten besitze, freigestellt sei, die französische oder die helvetische Nationalität zu wählen.
- Allen helvetischen Bürgern solle der freie Durchpass über alle Brücken und Strassen des abzutretenden Teils wie den Einwohnern des linken Ufers selbst eingeräumt werden.
Protesteingaben der Gemeinden
Unterdessen waren die Gemeinden nicht untätig geblieben. Allzu viel stand für sie auf dem Spiel. Aus allen Tälern des Wallis gingen Protestschreiben gegen die Zergliederung und Abtretung an Frankreich ein, darunter auch aus Visp. Diese Protesteingaben der Walliser Gemeinden sollen den allmächtigen Kaiser Napoleon schwer erzürnt haben; er beschwerte sich, dass solche Kundgebungen überhaupt geduldet wurden.
Visp als Teil Frankreichs?
Die Ängste der Walliser waren berechtigt. Bei der Variante «linkes Rottenufer» wären die Ortschaften Monthey, Saint-Maurice, Martigny mit den dort ausmündenden Talschaften, ferner Ering-, Eifisch-, Turtmann-, Matter-, Saaser- und Simplontal und auch die bedeutenden Orte Visp, Glis und Brig zu Frankreich geschlagen worden. Die verbleibende Strecke auf dem rechten, nördlichen Ufer mit gerade mal Sitten, Siders, Leuk, Raron, Baltschieder, Naters und dem Goms wäre weiterhin Walliser Boden geblieben. Unglaublich, dass sogar mehrmals die Möglichkeit bestand, diese – hirnverbrannte – Idee Wirklichkeit werden zu lassen.
Für die Franzosen hätte es auch weiter unten im Tal die Möglichkeit einer freien Durchfahrt gegeben: den Grossen St. Bernhard. Man hätte einfach das Oberwallis vom Unterwallis trennen können. Bonaparte, der diesen Pass mit seinen Truppen selbst ein Jahr zuvor passiert hatte, zog jedoch aus strategischen Gründen den Simplon vor.
Der eigentümlichen topografischen Lage des Wallis wegen wäre zudem die Teilung des Ober- vom Unterwallis auch verhängnisvoll ausgefallen. Das Oberwallis hätte damit nämlich seinen einzigen Ausgang nach der Waadt und damit nach der übrigen Schweiz verloren und so den Weg über Frankreich einschlagen müssen, da es ansonsten rundherum nur hohe, im Winter sogar unüberwindbare Pässe gab.

Diese Karikatur, die Napoleon zeigt, wie er auf der Karte der sieben Walliser Zenden steht, publizierte der Schweizer Künstler David Hess 1802 in London, wobei er als «Gillray junior» signierte. Napoleon gründete 1798 die «Helvetische Republik» und sicherte sich so die Herrschaft. Wichtig war für ihn jedoch der Zugang nach Mailand über das Rhonetal und den Simplonpass, über den er eine Strasse bauen liess.
David Hess, «Die politische Schauckel», Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich

Napoleon liess 1800–1805 die befahrbare Strasse über den Simplonpass bauen, um Kanonen darüber transportieren zu können. Zur Strasse gehörten acht grössere Brücken und sieben Galerien. Das Foto der napoleonischen Ganterbrücke stammt aus der Zeit, als noch mit Kutschen gereist wurde.
© Charles Gollhard in Barbey Frédéric, La Route du Simplon, Edition Atar, Genève, 1906
Verzicht von Frankreich
Nach mehr als einem Jahr endloser Verhandlungen und Briefwechsel verzichtete Frankreich im Frühjahr 1802 auf die Einverleibung des verlangten Gebietes des Wallis. Daraus lässt sich schliessen, dass die Walliser 1802 die neue Verfassung und Bonapartes Beschluss vom 4. April, die Unabhängigkeit des Wallis und seine Lostrennung von der Schweiz als endgültig zu erklären, als das kleinere Übel betrachteten als die Zergliederung des Landes. Mit der Errichtung einer unabhängigen Republik Wallis hatten die Männer der Helvetik mit unablässigen Bemühungen, Zähigkeit und Vaterlandsliebe für das Wallis ein weniger trübes Schicksal erwirkt. Unabhängig wurde das Wallis jedoch nur dem Anschein nach. Mit der neuen, ihm aufgezwungenen Verfassung wurde Frankreich eine Militär- und Handelsstrasse bewilligt. Und gerade darin hatte der eigentliche Zweck der Umtriebe Frankreichs gelegen.
Nachdem die diplomatischen Verhandlungen endlich in diese neue Bahn gelenkt worden waren, wurde am 5. September 1802 die Unabhängigkeit erklärt. Das Wallis war fortan eine «unteilbare Republik» – von Frankreichs Gnaden.
Das linke Ufer, das kleinere Opfer
Das Wallis hätte geteilt werden können, als sich Frankreich um 1800 die Strasse durch das Tal herauf und über den Simplon nach Italien sichern wollte.
Der erste amtliche Antrag Frankreichs vom 25. Februar 1800 forderte vom ganzen Wallis den Teil bis Brig. Da gestand die Schweiz als Notausstieg die Abtretung nur eines Rottenufers, des linken, südlichen, als kleineres Opfer zu, aber eben der Not gehorchend.
Neutrale Helvetische Republik
1801 anerkannte Frankreich die Neutralität der Helvetischen Republik. Auf die strategisch wichtige Simplonstrasse wollte Napoleon jedoch nicht verzichten. Er forderte daher die Abtretung des linken (südlichen) Rottenufers vom Genfersee bis zur Massabrücke bei Bitsch.
Einer Walliser Delegation erklärte er, dass er notfalls die linke Rottenseite ohne ihre Einwilligung annektieren würde. Er könne auf die Einverleibung dieses Gebiets, die 30 Millionen Menschen nütze, nicht zugunsten der wenigen Tausend Walliser verzichten.