Kapitel Nr.
Kapitel 11.01

So befreiten sich die Unterwalliser nach 300 Jahren von den oberen Zenden

Das Gebiet unterhalb der Morse, das heisst unmittelbar westlich von Sitten bis an den Genfersee, war Untertanengebiet des Oberwallis. Die Bewohner galten im Oberwallis als Untertanen. Während mehr als 300 Jahren hatten sie unter der oft auch brutal ausgeübten Macht ihrer Feudalherren, die von den oberen Zenden – auch Visp – turnusgemäss ernannt wurden, gelitten. Sie lebten ohne Perspektive auf eine bessere Zukunft. Soziale Aufstiegsmöglichkeiten gab es für sie nicht. Rechte besassen sie praktisch keine. Dennoch stiegen die Steuern, die sie abliefern mussten, ständig.

Es herrschten aber schwere Missstände wie Käuflichkeit der Ämter oder Korruption der Wähler. Wohl konnte jeder freie Landsmann die öffentlichen Ämter bekleiden, das war und blieb jedoch Theorie. In der Tat waren seit Jahrzehnten häufig die besten Ämter in den Zenden wie im Land Wallis in den Händen weniger Familien, welche diese beinahe als «Erbgut» betrachteten. Die Wahlen fanden zwar statt, wie Recht und Gebrauch es erforderten. Dabei war es aber vielfach nicht persönliches Verdienst oder Befähigung, sondern das ererbte Ansehen oder noch öfter das verteilte Geld, welches entschied. Beamte, die auf diese Weise zu Ehren kamen, richteten in ihrer Verwaltung das Augenmerk häufig darauf, irgendwie zu Geld zu gelangen. Höhere Stellen konnten nur Oberwalliser Bürger bekleiden. So ist es leicht erklärlich, dass die Unzufriedenheit immer weitere Schichten des Unterwallis erfasste.

Der Zendenhauptort Visp zu Beginn des 19. Jahrhunderts vom Oberwalliser Künstler Lorenz Justin Ritz (1796–1870).

Aus der Collection des principales vues et chef-lieux des dixains du canton du Valais von Lorenz Justin Ritz, [18--], Schweizer Drucke des 19. Jahrhunderts, Wissenschaftshistorische Bestände (ETH-Bibliothek), Public domain mark

Nahezu identisch ist dieser Stahlstich, den Gustav Adolph Müller gezeichnet hat; Henry Winkles hat ihn gestochen.

Erschienen in Zschokke, Heinrich: Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten dargestellt, Band 2, Kunst-Verlag Karlsruhe u.a. 1838.

1790 lief der Unterwalliser Krug über

Deshalb war das Wallis als zugewandter Ort der Alten Eidgenossenschaft in der Zeit von 1790 bis 1798 vor allem im westlichen Teil besonders stark vom Einfluss der revolutionären Ideen im benachbarten Frankreich betroffen. Eine Flut revolutionärer Schriften aus Frankreich sorgte dafür, dass sich die Lage im Unterwallis, in den von den sieben oberen Zenden verwalteten Untertanengebieten, den Unterwalliser Landvogteien Monthey und Saint-Maurice, nach dem Ausbruch der Französischen Revolution zusehends verschärfte. Jahrhundertelange Unterdrückung, menschliches Versagen so mancher Landvögte, unter denen sich für diese Zeit Hildebrand Schiner besonders ausgezeichnet hatte, gaben 1790 Anlass zum Aufstand der Unzufriedenen und zu Auseinandersetzungen der Untertanengebiete von Monthey und Saint-Maurice mit den freien Zenden, von denen sie dominiert wurden. Die Bewegung, welche die Parolen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hier ausgelöst hatten, konnten die «Herren», die Oberwalliser, nicht mehr beruhigen.

Die Willkür des Landvogts Schiner

Am 8. September 1790 bewahrte der Bauer Pierre-Maurice Rey-Bellet, «le Gros Bellet» genannt, auf dem Weg von Monthey nach Troistorrents zwei streitende Männer vor einer blutigen Auseinandersetzung. Deshalb wurde er vom Landvogt Hildebrand Schiner scharf gemassregelt und gebüsst, denn dem Vogt war deswegen ein Strafgeld entgangen.

Als der Landvogt dem «Gros Bellet» noch am gleichen Tag dessen beladenes Pferd wegnehmen liess, war das Mass der Unzufriedenheit voll. Es brauchte wenig mehr, um eine unterdrückte Bauernbevölkerung zu reizen. Die Willkürherrschaft des Landvogts Schiner führte zu einem Aufstand: Gleichentags trafen sich Unzufriedene aus dem Val d’Illiez, das am meisten unter der Vogtei zu leiden hatte, in einer Wirtsstube in der Nähe des Vogteischlosses. Lautstark proklamierten sie Freiheit und Gleichberechtigung und rühmten sogar die Zeiten vor 1475, als Savoyen dort geherrscht hatte. Unklug, herrisch und mit Drohungen liess der durch den Lärm gestörte Vogt zur Ruhe mahnen.

Da war der aufgebrachte Haufen Bauern nicht mehr zu halten: Er stürmte zum Schloss. Unter dramatischen Umständen gelang es Schiner zu flüchten. Er fand Zuflucht in der Vogtei Saint-Maurice. In der Vogtei Monthey aber schlug das erzürnte Volk alles zusammen. Auch an verschiedenen anderen Orten im Unterwallis kam es zu Unruhen.

Nach der Revolte wegen der Willkür des Landvogts reichten die Unterwalliser Untertanen im September 1790 beim Landrat zwei Klageschriften ein. Damit gerieten auch die früheren Landvögte bei den einfachen Bürgern im Oberwallis ins Zwielicht.

Unterwalliser Delegation verhandelte auch in Visp

Im Anschluss an die schweren Auseinandersetzungen entschlossen sich die Unterwalliser zu Verhandlungen mit den sie unterdrückenden Oberwallisern. Sie sandten eine Zweierdelegation bestehend aus dem Métral Jean Delseth aus Vionnaz und dem Kurial Barthélemy aus Monthey zum Landeshauptmann Sigristen in Ernen.

Unterwegs machten sie am 11. September 1790 auch in Visp Halt, um hier in der Herberge von Richter Johannes-Peter Andenmatten mit Grosskastlan Franz-Josef Andenmatten zu verhandeln.

Zunächst Verzeihung und Amnestie

Die Oberwalliser Zenden hörten auf den Rat der Regierung von Bern und gewährten den Aufrührern Verzeihung und Amnestie. Letzteres geschah in der Domkirche zu Sitten. Die oberen Zenden waren dort markant vertreten, wobei der Zenden Visp 27 Vertreter delegierte. Erstmals kamen auch Abgeordnete aus dem ehemaligen Untertanengebiet von Lötschen-Niedergesteln, die sich nur wenige Monate zuvor losgekauft hatten.

Obere Zenden in Rücklage

Für die regierenden oberen Zenden wurde die Lage bedrohlich. Auf den 19. September wurde ein ausserordentlicher Landrat einberufen. Die Vertreter der Unterwalliser Gemeinden forderten vom Landrat unter anderem die Abschaffung der Vögte. Der Rat gewährte Konzessionen, lehnte jedoch die Abschaffung der Vögte ab. Der Geist der Zeit aber, der vom Westen her ins Land eingedrungen war, schien auf die Dauer nicht mehr aufzuhalten zu sein.

Der Krawall von Monthey, der erste Versuch einer Freiheitsbewegung, scheiterte. Dass dieser Aufstand in den Untertanengebieten misslang, wird auf die Uneinigkeit unter den Unterwallisern und auf fehlende Organisation und Radikalität zurückgeführt. Schon bald nach der Bewältigung dieser Unruhen kehrten die verhassten Landvögte zurück und übernahmen wieder ihr Amt.

Zenden Visp stellte alle zwölf Jahre den Landvogt

Die Landvögte, darunter alle zwölf Jahre auch Visper, die in den Schlössern von Saint-Maurice und Monthey residierten, erhielten eine angemessene, feste Besoldung, die mit Naturalien aus dem Untertanenland ergänzt wurde. Womit sich Vögte am Ort immer mehr verhasst machten, war der oft willkürliche Einzug von Bussen und Strafgeldern, wobei dies nicht auf alle zutraf.

Burgermeister von Visp, dann Landvogt von Monthey

Anton Alois Burgener (1750–1802), Sohn des Landeshauptmanns Franz Joseph Burgener, war Visper Zendenbannerherr (1775–1798), Burgermeister von Visp (1773, 1775), Landvogt von Monthey (1783–1785) sowie Grosskastlan von Eifisch.

Letzter Landvogt von Monthey

Letzter Landvogt in Monthey war 1797 und 1798 der aus dem Saastal stammende Peter Joseph Moritz Zurbriggen. Er war auch Grosskastlan des Zenden Visp und Mitglied des helvetischen Gerichtshofs. Zurbriggen starb 1802 im Alter von erst 37 Jahren in Visp.

Loser Bund von Dörfern

Bis zum Franzoseneinfall 1798 war das Wallis der sieben oberen Zenden ein loser Bund von unabhängigen Kleinstädten oder Dörfern.

Feldzug der oberen Zenden ins Unterwallis

Der Aufstand der beiden Unterwalliser Vogteien gegen die regierenden sieben oberen Zenden des Wallis hatte seine Konsequenzen: Wegen den noch nicht gänzlich gestillten Unruhen erachteten im Jahr darauf die «Herren», die sieben oberen Zenden, einen Feldzug ins Unterwallis für notwendig. Die Regierung antwortete mit militärischer Besetzung des Unterwallis. Der Landrat mobilisierte die Truppen. Dafür hatte jeder Zenden einen «kleinen» Auszug, bestehend aus je 1 000 Mann zu stellen. Jeder Ort sollte seine Mannschaft selbst besolden, abgesehen von Brot und Fleisch.

Mit dem Untergang der von Turn 1375 war die Kastlanei Niedergesteln und damit auch das Lötschental Untertanengebiet der fünf oberen Walliser Zenden geworden und nach der Vertreibung der Savoyer auf der Planta 1475 beherrschten die sieben Zenden das Unterwallis und das Lötschental (Untertanengebiete grau eingefärbt). Lötschen kaufte sich erst 1790 frei. Im gleichen Jahr begann der Befreiungskampf der Gebiete im Unterwallis.

© Peter Salzmann nach Fibicher

Von Visp waren nur Visper Burger kriegstüchtig

Dem «kleinen» Auszug, den der Ort Visp für den Feldzug ins Unterwallis stellen musste, gehörten nicht Fremde oder Einwohner an, sondern Burger oder Burgersöhne. Jeder Soldat sollte täglich 15 Batzen an Geld erhalten. Darüber hinaus sollte den Soldaten täglich ein Gmeiwärch «auf die Tessel geschlagen werden». Wenn aber eine andere Gemeinde im Vaterland mehr als 15 Batzen bezahlen sollte, so zahlte die Burgerschaft Visp auch diesen höchsten Ansatz. Wer sich über 10 Jahre als Soldat einschreiben und während dieser Zeit im Notfall einberufen liess, dem wurden auf Kosten der Burgerschaft Rock, Hosen und Weste ausgehändigt.

Im September 1791 brachen 100 Mann aus dem Zenden Visp zum Abmarsch ins Welsche auf, zum «Schutz» des Untertanenlandes Unterwallis, dies unter dem Kommando von Hauptmann Peter Joseph Willisch und Leutnant Stefan Stoffel.

Teufelsaustreibung im Nanz

Im Nanztal sollte 1791 ein «wütender Teufel» oder ein sonstiges Gespenst exorziert und vertrieben werden. Mit menschlicher Kraft war es nämlich nicht mehr möglich, das nötige Wasser zum Bewässern zu erhalten. Der dort irrende Geist habe so viele «Rufinen» ins Gamsabett gestossen, dass das Wasser augenblicklich abgeschnitten und die Wasserleiten aufgefüllt würden. Um endlich festzustellen, ob sich wirklich ein Gespenst dort aufhalte, wurden italienische Patres herbeigerufen. Auf Anfrage der Burger von Glis und Gamsen erklärte sich die Burgerschaft Visp, die dort oben Alprechte hatte, bereit, sich an den durch die Massnahmen entstehenden Kosten zu beteiligen.

Fünf Unterwalliser in Sitten von den Oberwallisern hingerichtet

Die Oberwalliser brachten die Unruhen rasch unter Kontrolle. 1791 schlugen die Zenden die Verschwörung von Les Crochets nieder, richteten die Rädelsführer in Sitten hin und besetzten das Gebiet zwischen Martigny und Le Bouveret.

Die fünf «Terroristen», die hingerichtet wurden, hatten sich im untersten Teil des Untertanenlandes, in Monthey, gegen das Oberwallis verschworen, um sich der erpresserischen Landvögte zu entledigen. Die Oberwalliser Truppen waren ihrer habhaft geworden und brachten sie zur Aburteilung in die Hauptstadt. Die Behörden der sieben Oberwalliser Zenden erwiesen sich als unerbittlich und sprachen die Maximalstrafe aus. Am Richttag wurde das Gerücht in Umlauf gesetzt, die Komplizen der fünf unglücklichen Unterwalliser seien in grosser Zahl im Anmarsch, um diese mit Waffengewalt zu befreien. Die Todeskandidaten vertrauten darauf. Einer der verurteilten Anführer, der schon auf dem Schemel sass und auf die Enthauptung wartete, hielt unablässig Ausschau, weil er glaubte, seine Retter könnten jeden Moment auftauchen. Vergeblich. Drei der Männer aus dem Chablais wurden gehängt, zwei enthauptet, zwei weitere auf die Galeeren nach Spanien verbannt.

Dass diese drakonischen Urteile und deren Vollstreckung den herrschenden Oberwallisern nicht zur Ehre gereichten, im gesamten Untertanengebiet tiefe Bestürzung auslösten und die Stimmung und die Lage alles andere als beruhigten, lag auf der Hand.

Nach sieben Jahren sollten die Hingerichteten als Märtyrer für die Freiheit wenigstens in ihrer Ehre wieder eingesetzt werden. Seither wurde im Wallis niemand mehr durch Erhängen hingerichtet.

Invasion der Franzosen von Unterwallisern erwünscht

Zwar wurden die Aufstände im Untertanenland Unterwallis unterdrückt, doch französische Agenten bereiteten einen Umsturz vor. Viele Unterwalliser wünschten gar offen eine Invasion der Franzosen. Die von Frankreich gekommenen Ideen lebten umso intensiver weiter und steckten immer weitere Kreise des Volkes an. Dazu trug auch bei, dass das Oberwallis die 1791 in Aussicht gestellten Verbesserungen nie ernsthaft zur Ausführung brachte.

Wenig motivierte Oberwalliser

So rumorte es immer wieder. Die Französische Revolution liess bei den Unterdrückten Hoffnung auf die baldige Freiheit aufkommen. Am 10. August 1792 wurde in Paris die Schweizer Garde niedergemetzelt, später kam es zur Auflösung aller Schweizer Regimente und zur Abschaffung des Königtums in Paris.
Obwohl selbst noch nicht direkt betroffen, antwortete das Wallis mit militärischer Besetzung der Grenzen gegen Savoyen. Die Oberwalliser aber zogen nur mit Unlust an die Grenze; Landeshauptmann Sigristen stellte betrübt fest, dass sie kaum mehr bereit waren, um Ehre und Ansehen und gegen Gefahren des Vaterlands zu streiten. Sie wollten nicht mehr aus den Hütten, ihr Eigennutz sei zu gross gewesen, hiess es. Mit Befürchtungen und Hoffnungen gingen die Jahre dahin. Das Wallis wurde nun von Emigranten und vertriebenen Geistlichen aus Frankreich überschwemmt.

Frankreichs Vorhaben mit der Schweiz

Die revolutionären Machthaber in Frankreich beschäftigten sich schon seit Jahren mit dem Gedanken, die Eidgenossenschaft in ihrem Sinne umzugestalten. Blieb es von dieser Seite her zunächst noch für einige Jahre ruhig, so änderte sich die Lage 1797. Da wurde der Überfall zur feststehenden Absicht der französischen Regierung.

Für das Wallis waren schon vor dem Staatsstreich Pläne aufgetaucht, die seine Unabhängigkeit infrage stellten. Kein Geringerer als Napoleon Bonaparte selbst trug sich mit dem Gedanken, für die französischen Heere eine Strasse durch das Rhonetal und über den Simplon zu erstellen. 1797 stellte er eine diesbezügliche Forderung an den Walliser Landeshauptmann. Die Tagsatzung der 13 Orte und das Wallis gelangten an den später berühmten Feldherrn: Er solle von diesem Plan Abstand nehmen, da dieser die Neutralität der Schweiz gefährde. Als anfangs Sommer 1797 drei französische Kriegsgefangene auf ihrer Durchreise durch das Wallis beschimpft wurden und in Martigny einem französischen Bürger eine Kokarde abgerissen wurde, erhielt der Walliser Landeshauptmann Sigristen ein Schreiben: «Mit Bedauern sehe ich Zwistigkeiten, die sich erheben und die der Eintracht und dem guten Einvernehmen beider Staaten so entgegengesetzt sind; ich darf Ihnen nicht verhehlen, dass sie in Frankreich einen sehr schlechten Eindruck hervorrufen werden.» Vorwürfe dieser Art waren Grund genug für einen Krieg, falls ein solcher in die Pläne der französischen Machthaber passte. Das ganze Rhonetal musste eine Provinz Frankreichs werden.

Mangourit nahm die Sache in die Hand

Mitte Mai 1797 erneuerte das jetzt von Napoleon dirigierte Frankreich die Forderung nach einem Vertrag für den Durchmarsch durch das Wallis. In Absprache mit den Eidgenossen reagierten die Walliser jedoch nicht.

Französische Gesandte begannen in der Schweiz und auch im Wallis eine fieberhafte Tätigkeit zu entwickeln, um die bisherige Ordnung umzustürzen. Neuer französischer Geschäftsführer im Wallis wurde Michel Ange Bernard Mangourit, ein schlauer, verschmitzter Diplomat aus der Bretagne, ein begeisterter Revolutionär, der die Umstände und die Personen für seinen Zweck wohl auszunützen verstand. Anfangs Januar 1798 kam der neue Resident Frankreichs nach Saint-Maurice und wurde dort mit aller Ehrerbietung empfangen. Mit seinem einnehmenden Auftreten, mit Versprechen und wohl auch mit Geldspenden gewann er von Tag zu Tag mehr Einfluss. Er wusste aber seine Absichten geschickt zu verbergen, sodass nach Bern berichtet werden konnte: «Im Wallis ist bis dato alles still. Mangourit tut uns gar nichts zuleid». Dieser hatte aber in Saint-Maurice vorzügliche Helfershelfer, die im Sold Frankreichs Spionagedienste leisteten. Es war der Auftrag der französischen Regierung, die Unterwalliser zur Erhebung aufzureizen.

Die Wende im Unterwallis

1798 fielen die Franzosen in die Waadt ein und diese proklamierte am 24. Januar 1798, ermuntert durch die Franzosen, ihre Unabhängigkeit von Bern. Vier Tage später wurde in Saint-Maurice der erste Freiheitsbaum des Wallis, das Symbol der Revolution, errichtet und Mangourit beflaggte seine Residenz. Da niemand dagegen einschritt, konnte sich die Revolution in Saint-Maurice ohne Störung abwickeln. Als die Vasallen das Gleiche in Monthey und Sitten versuchten, blieben die Erwartungen unerfüllt. Monthey folgte aber wenig später mit der Unabhängigkeit des Bezirks und forderte die Gleichberechtigung mit den Oberwallisern. Ein provisorisches Komitee übernahm alle Gewalt, die bisher der Landvogt aus dem Oberwallis innegehabt hatte. Die beiden Landvögte Leopold de Sepibus für Saint-Maurice und Moritz Zurbriggen für Monthey wurden ehrenvoll bis zur Brücke über die Morse geleitet und verabschiedet.

Die erzwungene Befreiung der «Unteren»

Am 15. Februar versammelte sich in Sitten der Landrat der Republik – es sollte der letzte sein. Nachdem sich Monthey und weitere Gemeinden der Bewegung angeschlossen hatten, gestand der Landrat dem Unterwallis unter grossem Druck Freiheit und Unabhängigkeit zu; er verzichtete formell auf seine Souveränitätsrechte über das Unterwallis. Am 22. Februar 1798 erlangten die Unterwalliser die Gleichberechtigung mit den Oberwallisern.

Der damalige Vorsitzende des Landrats Jakob Valentin Sigristen, der letzte Landeshauptmann der alten Republik der sieben Zenden, ein Opportunist, nannte sich dabei «Repräsentant eines seit Jahrhunderten freien Volkes, eines etwas wilden, aber einfachen, in seiner Einfachheit glücklichen Volkes in der Mitte der wilden Gletscher und kahlen Felsen. Unsere Enkel werden ihr Andenken segnen in ihren Alphütten und in den Häuschen ihrer Weinberge».

Freiheit ohne Blutvergiessen

Das am 15. Februar 1798 durch den ausserordentlichen Landrat ausgearbeitete feierliche Dokument der Unabhängigkeit des Unterwallis wurde am 22. Februar von Jakob Valentin Sigristen im Namen der sieben Zenden unterzeichnet und dem Zentralkomitee von Saint-Maurice übergeben. So hatten die Unterwalliser Gemeinden ihre Unabhängigkeit ohne Blutvergiessen erhalten.

Die Republik der 10 Zenden

Für wenige Wochen entstand nun die Republik der 10 Zenden. Das bisher besetzte Unterwallis war in drei Zenden aufgeteilt worden: Entremont, Monthey und Saint-Maurice. Nach dem Zugeständnis von Freiheit und Unabhängigkeit an das Unterwallis präsidierte Jakob Valentin Sigristen 1798 die dreiköpfige Übergangsregierung der neuen erweiterten Republik der zehn Zenden, die mit einer neuen Verfassung begründet wurde.

Im Wallis fand nun ein neues politisches System Einzug, das auf den Grundideen der Französischen Revolution beruhte und Gewaltenteilung vorsah. An der im März 1798 stattfindenden Repräsentantenversammlung nahmen 25 Abgeordnete aus dem Oberwallis und 13 aus dem Unterwallis teil. Sie zogen einen Schlussstrich unter das «ancien régime».

Schon zwei Monate später war die Herrlichkeit der 10 Zenden nach dem Willen der siegreichen Franzosen erledigt. Diese waren am 5. März in Bern eingezogen: Das Wallis sollte ein Kanton der vom Basler Peter Ochs «erdachten» Helvetischen Republik werden, was im selben Jahr auch geschah. Frankreich hatte auf die Einverleibung der Republik Wallis in die «Helvetische Republik» gedrängt.

Die Franzosen gaben der Schweiz eine neue Verfassung, die sogenannte «Helvetik», womit die «Eine und Unteilbare Helvetische Republik» geschaffen wurde. Obwohl den Wallisern zuvor die Unabhängigkeit versprochen worden war, beugten sie sich schweren Herzens diesem Diktat. Die Angst vor dem mächtigen Nachbarland hatte erneut obsiegt.

Im Wallis hatte sich der grosse Umschwung verhältnismässig ruhig vollzogen. Da Frankreichs Armeen nun die übrige Schweiz beherrschten, galt es für sie, dem ungeliebten französischen Residenten Mangourit, der alles eingefädelt hatte, den Dank abzustatten. [Siehe auch Kapitel 11.07 «Paris wollte «à tout prix» den famosen Visper Kristall».]

Für drei Jahre Republik Wallis in der Helvetischen Republik

In der Abstimmung vom 4. April 1798 nahmen die Gemeinden des Wallis, die allerdings ungenügend informiert waren, die Einverleibung ihres Staates in die «Helvetische Republik» an. Das Wallis sollte dieser als Kanton bis November 1801 angehören.

Einem Brief vom 5. April 1798 von Casimir Lang (1767–1815), Schreiber des Zenden Visp und Bruder von Ignaz, ehemaliger Kastlan des Zendens Visp, kann entnommen werden, dass die Mehrheit des Zenden der Versammlung der helvetischen Republik den Vorzug gegenüber einer teuren und wahrscheinlich unnötigen Deputation nach Paris für die Beibehaltung der Unabhängigkeit der Republik Wallis gab und dass sie konsequenterweise die Abordnung von 12 Boten befürwortete.

Am 10. April nahm das Walliser Volk die Helvetische Verfassung an, die nach französischem Muster zentralistisch war; sie verlangte von jedem Bürger, seine Loyalität zum Vaterland durch Leistung eines Eides zu bezeugen, was im Oberwallis grossen Unmut auslöste. Da wandte sich am 17. August 1798 der damalige, aus Visp stammende Bischof Josef Anton Blatter in einem Hirtenbrief an alle Gläubigen seiner Diözese, in welchem er erklärte, der Eid könne ohne Furcht und mit ruhigem Gewissen geleistet werden, was denn auch weitgehend befolgt wurde, aber mit grossem Widerwillen. Auch Visp nahm die Verfassung an. [Siehe auch Kapitel 11.02 «Joseph Anton Blatter von Visp, der letzte Walliser Fürstbischof» und Kapitel 11.09 «Im ‘Bezirk Vispach’ in der Helvetischen Republik».]

Das Oberwallis trauerte der alten, «kommoden» Ordnung nach; es war sogar zum bewaffneten Aufstand bereit. [Siehe auch Kapitel 11.03 «Schrecklich wüteten die Franzosen in Visp».]

Bezirksvertreter schworen in Visp auf Verfassung

In Visp schworen am 23. und 24. August 1798 83 Bezirksleute mit viel «Solanellität» den Eid auf die neue Verfassung. Acht waren abwesend, sei es im Ausland, im Militärdienst oder in den Bergen.

Unterwallis noch nicht angemessen vertreten

Für die Unterwalliser hatte die Stunde der Freiheit geschlagen. Überall errichteten sie Freiheitsbäume. Sie wollten fortan unabhängig und frei leben, die Herrschaft der oberen Zenden endgültig abschütteln und den bisherigen Herren gleichgestellt leben.

Zwar hatte das Unterwallis im Zuge der Revolution von 1798 die – relative – Gleichstellung mit dem Oberwallis erreicht, allerdings noch keine anteilmässige Vertretung in Parlament und Regierung, die der Bevölkerungszahl entsprochen hätte. Das Unterwallis drängte mit Vehemenz auf eine entsprechende Repräsentation. Auf Parlamentsebene wurde dies bis 1815 teilweise erfüllt, aber gemessen an den tatsächlichen Mehrheitsverhältnissen war die Verteilung noch nicht gerecht, denn wieder stand die Macht der oberen Zenden im Vordergrund. Gerechtigkeit für die Unterwalliser brachte erst die liberale Verfassung von 1839 mit der ersten modernen Verfassung des Wallis.

Zimmermann starb als Söldner

Am 26. Juli 1793 starb in Sassari auf Sardinien Sebastian Zimmermann aus Visp, Oberst in piemontesischen Diensten.

Nur noch 150 Säcke Reis

Von 1793 bis 1795 herrschte im Wallis Kornknappheit. Unterstützung in Form von Getreide- und Reislieferungen erhielt die Landschaft 1794 vor allem aus dem Königreich Sardinien/Piemont. Als sich die Versorgungssituation schliesslich auch in dieser Region weiter verschlechterte, konnte der Landrat nur noch die Lieferung von 150 Säcken Reis erwirken.
In Notfällen gab es auch im 18. Jahrhundert Hilfe zwischen Staaten. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei drohenden Hungersnöten nicht selten die Grenzen geschlossen und die eigenen Sorgen in den Vordergrund gerückt wurden. Mit einer vorsorglichen Einlagerung von Korn hätte dank dem Rückgriff auf Vorräte nach Missernten eine übermässige Verteuerung der Lebensmittel aus eigener Kraft verhindert werden können.
Im Wallis wurden jedoch kaum Überschüsse produziert – von den 63 Jahren zwischen 1735 und 1798 gab es nur 14 Jahre, in denen kein Ausfuhrverbot für Getreide erlassen wurde.

Wo sich die Visper überall als «Herren» aufgespielt hatten

Die Oberwalliser – und die Visper nicht am wenigsten – waren während mehr als 300 Jahren selbst mächtige Herren über Gebiete im Rhonetal. Das waren Gebiete, die sie in Kriegen gegen Savoyen und die Herren von Turn erobert und behalten hatten. Gemessen an den damaligen Verkehrsverhältnissen waren diese recht umfangreich. Es handelte sich dabei um folgende Landschaften: Landvogtei von Saint-Maurice; sie dauerte von 1480 bis 1798, Landvogtei von Monthey (1536–1798), Landvogtei von Evian (1536–1569), Landvogtei von Hochtal (1538–1569), Kastlanei von Niedergesteln und Lötschental (1426–1790), Grossmeiertum von Hérémence und Nendaz (1592–1798), Kastlanei von Bouveret-Vionnaz (1597–1798), Kastlanei von Brämis-Gradetsch (1568–1623).

Die Verwaltung dieser Vogteien und Kastlaneien waren auch im Zenden Visp heiss begehrt. Sie boten Gelegenheit, sich in der öffentlichen Verwaltung Kenntnisse und Erfahrung anzueignen und einen nicht zu unterschätzenden Verdienst. Diese Landvogteien und Kastlaneien waren entweder dem Land Wallis oder einzelnen Zenden untertan (Visp zum Beispiel für Niedergesteln-Lötschen).

Brauch und Gesetz bestimmten, dass diese Stellen dem «Kehr», dem Turnus nach, in der Regel für zwei Jahre von allen Zenden verwaltet wurden. Der Turnus begann mit Sitten und führte dann das Tal hinauf bis zur Furka.

Nur Patrizier als Vögte

Zwar erfolgte die formelle Wahl dieser Amtsleute im Walliser Landrat oder in der Versammlung der Anteil habenden Zenden. Diese mussten aber jeweils den Bewerber annehmen, den der Zenden vorgeschlagen hatte. Dass die Bewerber ausschliesslich aus den Reihen der Patrizier kamen, war selbstverständlich. Einerseits beherrschten diese ja auch die übrige Politik auf allen Ebenen und sie sorgten auch hier dafür, dass solch ertragreiche Pfründen in ihren Kreisen verblieben.

Anderseits waren auch keine Gegner da, die ihnen hätten gefährlich werden können. Dafür war schon gesorgt, denn es gab keine öffentlichen Schulen und das gemeine Landvolk, das die Oberen geflissentlich auf Distanz hielten, war des Lesens und Schreibens unkundig.

Nicht überall half die Schulbildung. Es wurden auch Vögte ernannt und vom Bischof und vom Landrat bestätigt, denen jegliche Französischkenntnisse abgingen und die dennoch verwalteten und Gericht hielten. Wie wohl?