Kapitel Nr.
Kapitel 11.09

Im «Bezirk Vispach», in der Helvetischen Republik

Auf Druck Frankreichs schloss sich das Wallis, damals «Republik der zehn Zenden», im April 1798 als eigener Kanton der «Helvetischen Republik» an, die von Frankreich her gegründet worden war und am 12. April 1798 die alte Eidgenossenschaft ablöste. Dieses Staatswesen sollte bis zum 10. März 1803 bestehen, wobei das Wallis am 27. August 1802 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, um die «Unabhängige Republik Wallis», ein Satellitenstaat Frankreichs zu werden – bis 1810.

Visp in einem Ausschnitt aus dem Blatt «Partie du canton de Berne, du Vallais et canton de Fribourg», um 1797, des Atlas Suisse. Der Atlas Suisse, Karte der Schweiz in 16 Teilblättern von Johann Rudolf Meyer, Johann Heinrich Weiss und Joachim Eugen Müller, «Meyer-Weiss-Atlas» (1796–1802), gehört zu den Vorläufern der modernen Kartografie in der Schweiz.

Universitätsbibliothek Bern, Public Domain Mark

Fokus auf Visp und seine Umgebung 1797. Aus «Partie du canton de Berne, du Vallais et canton de Fribourg» (siehe Angaben zum Bild oben).

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Aufgeblähter Beamtenapparat

Der Kapitulation von 1799 gegen die übermächtigen Franzosen folgte die Einführung einer neuen Ordnung mit einem recht aufgeblähten Beamtenapparat. Dessen Vorschriften führten im Volk zu einer immer grösseren Verbitterung: der von allen Bürgern verlangte Eid auf die neue, als religionsfeindlich betrachtete Verfassung, der resolute Einzug von bisher unbekannten direkten Steuern, die Aushebung von Truppen unter der Bevölkerung. Mit neuen Behörden begann man «die zerbrochenen Scheiben» wieder aufzusammeln.

Gemeinden mussten Besetzer mitfinanzieren

Die Bevölkerung litt nach wie vor unter dem dauernd anwesenden Militär, das sich oft durch Räubereien auf dem Feld hervortat. Noch 1800 waren die französischen Truppen im Oberwallis präsent. So musste Visp diesen nach wie vor Quartier und Verpflegung garantieren.

Eine Folge der Zermürbungstaktik Napoleons war, dass er am 23. November 1801 das Wallis durch französische Truppen besetzen liess. Der französische General Turreau wollte über die Staatseinkünfte des Wallis verfügen, um die Verköstigung und den Unterhalt seiner Soldaten zu gewährleisten und gleichzeitig den Bau der Simplonstrasse zu beschleunigen. Es wurde beschlossen, in den Gemeinden des Kantons eine Kontribution von 16 000 Franken für den Unterhalt der Besatzungstruppen einzuziehen.

Eigenartige Gemeinderatswahlen

In der Helvetischen Republik nahm das Wallis erstmals Züge einer repräsentativen Demokratie an: Zenden und Gemeinden verloren ihre Vorrechte, die Bürger erhielten gewisse Rechte und Freiheiten. 

Die Gemeinden waren in der alten Landschaft Wallis die Träger der obersten Gewalt gewesen. Die helvetische Republik von 1798 beruhte indessen auf straffer Zentralisation. Die Gemeinden erhielten vorerst sogenannte Nationalagenten zugeteilt, Beamte der Republik. Die Helvetik führte in den Gemeinden den noch heute bestehenden Dualismus zwischen politischer Gemeinde und Burgergemeinde ein. Das heisst: Für die politische Organisation aller auf dem Gemeindegebiet wohnhaften helvetischen Bürger wurde die Munizipalität eingeführt. Die Nichtburger sollten wenigstens Bodeneigentümer in der Gemeinde sein, um am öffentlichen Leben teilnehmen zu können. Eine Gemeinde-Verwaltungskammer besorgte die Verwaltung des Burgervermögens.

Bei den Wahlen wurde zuerst der Präsident gewählt, dann folgten die Ratsmitglieder und Gewalthaber. Die Stimmbürger schlugen beliebig viele Kandidaten vor. Der Kandidat mit der geringsten Stimmenzahl fiel dann jeweils aus der Wahl. Bei Erneuerungswahlen konnten die Wähler neue Gemeinderäte nur aus der Liste wählen, welche die abtretenden Gemeinderäte erstellt hatten; diese waren übrigens wieder wählbar. Mit geschickter Zusammenstellung der Vorschläge hatten es die Gemeinderäte in der Hand, die eigene Wiederwahl zu sichern. Es handelte sich um ein äusserst schwerfälliges System.

1802 wurden die Wahlen geheim durchgeführt. Das war aber praktisch kaum möglich, denn die Stimmabgabe musste schriftlich erfolgen und der grösste Teil der Wähler konnte weder schreiben noch lesen.

Um für die Gemeindeämter wählbar zu sein, musste der Kandidat das Alter von 21 Jahren erfüllt haben. Die zivilen und die geistlichen Ämter waren unvereinbar.

Später, im Gesetz von 1807, wurde die Beibehaltung eines offenbar alten Brauchs, nämlich die Ernennung des Gemeinderats «für den Lebtag», festgehalten. Eine solche Ernennung verstiess zwar nicht gegen die Verfassung, stand aber wohl im Widerspruch zu den Grundsätzen des neuen Staats. Beim Tod eines Gemeinderats fand eine Neuwahl statt, «sobald man es als schicklich betrachtete».

Jede Gemeinde hatte einen Gemeinderat, der aus höchstens zwölf «Gliedern» und Gewalthabern bestand. Ihm oblagen die Verwaltung der Gemeindegüter, die Bestimmung der Ausgaben, die Verteilung der Beschwerden und die Einrichtung der Ortspolizei.

Fremde Truppen verhinderten Anpflanzung

Am 15. Januar 1800 stellte man in Visp fest, dass das von den neuen Machthabern versprochene Saatgut noch nicht eingetroffen war. Es gebe nichts Gefährlicheres als das Volk mit schmeichelnden Hoffnungen abzufertigen, wurde kommentiert. Anderseits fand man auch alle möglichen Ausreden, um nicht anpflanzen zu müssen. Solange die fremden Truppen sich nicht zurückzogen, habe solches keinen Sinn, hiess es.

Tribut des Zenden Visp an die Siegermacht

An einem bestimmten Tag des Jahres 1800 begaben sich die Gemeindepräsidenten oder Maires des ganzen Zenden nach Visp, um hier dem französischen Commissaire ihren Tribut an den Sieger abzuliefern. So häuften sich auf dem Tisch Bargeld, Zinnkannen und -becher. Das war das Fazit des von Napoleon entfesselten Kriegs, der praktisch den ganzen Kontinent erfasst hatte.

Unterhalt der Landbrücke neu geregelt

Am 2. Januar 1802 gab der Landeshauptmann-Stellvertreter dem Aufseher «ob der Raspille» folgenden Auftrag:
Die Herstellung der Winterbrücke in Visp solle nicht nur Sache der bis dahin beladenen Gemeinden sein, sondern aller Gemeinden des Zenden mit ihren «Stöcken» (Holz). Wenn eine Gemeinde durch Fuhren und Tagwerke mehr leiste als eine andere, so könne dies im Frühjahr mit Strassenbau verrechnet werden.

Zenden Visp in zwei Distrikte aufgeteilt

Die Rolle der Zenden war nicht vergleichbar mit derjenigen, die sie vor 1798 gehabt hatten. Sie waren als Verwaltungsbezirke in den Einheitsstaat eingegliedert und hatten bei der staatlichen Willensbildung keinerlei selbstständige Bedeutung mehr. In der alten Landschaft Wallis waren die Zenden, die «sieben löblichen Zenden», gewissermassen das Aushängeschild der Volksherrschaft gewesen – als Zeichen der Volksvertretung dem Bischof als zweite Macht gegenübergestellt.

1798 bedeutete also das Ende der Zenden, auch in ihrer territorialen Zusammensetzung. Das Wallis wurde neu in 12 Distrikte eingeteilt: Ernen, Brig, Visp, Stalden, Leuk, Siders, Sitten, Hérémence, Martigny, Sembrancher, Saint-Maurice und Monthey. Der Zendenrat war eine Vertretung der Gemeinden.

Unter der Helvetik 1798 wurde der bisherige Zenden Visp mit weiter gezogenen Grenzen in die beiden Distrikte Visp und Stalden aufgeteilt. Der Distrikt Visp beziehungsweise der Bezirk Vispach bestand aus Visp selbst und den übrigen Gemeinden des heutigen Bezirks, dem sogenannten Visper Viertel des Bezirks Westlich Raron oberhalb des Gesteinbachs aufwärts: Zeneggen, Raron, Ausserberg, Niedergesteln, Eggerberg, Unterbäch und Bürchen. Der Distrikt oder Bezirk Stalden umfasste Stalden, Staldenried, Eisten, Visperterminen, St. Niklaus, Embd, Grächen, Törbel, Saas-Grund, Saas-Almagell, Saas-Balen, Saas-Fee, Zermatt, Täsch und Randa. 1802 wurden jedoch die alten Grenzen wieder hergestellt.

Freiheit, Gleichheit und keine «Inlandzölle» mehr

Auch wenn sie von den verhassten Franzosen kam, hatte die neue Verfassung, die «Helvetik», ihre Verdienste: ihre Trümpfe waren die Grundsätze von Freiheit und Gleichheit.

Die Helvetik räumte mit den aus dem Mittelalter stammenden Zehnten und Bodenzinsen auf. Die sogenannten «Inlandzölle», die bei der Benützung einer Brücke oder eines Passes zu entrichten waren, gehörten von nun an ebenfalls der Vergangenheit an. Auch die Folter, zu der man für die Erpressung von Geständnissen oft griff, wurde abgeschafft.

Wahl des Abgeordneten an die Tagsatzung in Sitten

Am 23. August 1802 versammelten sich die Bürger-Wahlmänner der Gemeinden Visp, Raron, Unterbäch, Bürchen, Ausserberg, Eggen, Eggerberg, Eyholz, Lalden, Baltschieder und Gestillen (Gesteln) in Visp. Den Vorsitz führte der alt Fähnrich als ältester Bürger. Alt Meier Alois Roten und alt Kastlan Anton Lochmatter wurden zu Sekretären gewählt, Christian Matthis und Franz Huoter zu Stimmenzählern ernannt. Es ging um die Wahl des Gesandten an die Tagsatzung zu Sitten, und zwar in geheimer Abstimmung. Das absolute Mehr erreichte der Visper Zendenhauptmann Andenmatten.

Abwesende stimmten zu

Die zweite helvetische Verfassung von 1802 wurde erstmals in der Geschichte der Schweiz auf dem Weg der Volksabstimmung eingeführt. Die Art der Abstimmung war allerdings noch nicht sehr demokratisch: Nichtstimmende wurden einfach den Befürwortern zugerechnet.

Krieg verhinderte Strassenunterhalt

Noch im Mai 1798, als wegen der einmarschierenden Franzosen die Zeichen bereits auf Sturm standen, versicherte der Landrat den Zenden und Gemeinden, dass sie – sollten die Strassen «in künftigen Zeiten wiederum auf den alten Fuss zurückfallen» – nicht mit neuen Verpflichtungen belastet würden. Aufgrund der entscheidenden Entwicklungen in Frankreich war das Thema des Strassenunterhalts in den 1790er-Jahren zunehmend in den Hintergrund gerückt.

Bisherige wurde auch neue Elite

Die Führungsschichten des Wallis vor der Revolution waren eine oligarchische Elite mit gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen, streng konservativ in der Grundhaltung und mit gehobenem Lebensstil. Sie verhinderten, dass auch andere Geschlechter an die Macht gelangten.

Hans Steffen charakterisierte die Elite des «Ancien Régime», wie sie vom 15. bis 18. Jahrhundert regierte: Sie hatte dank Aktivitäten in Passverkehr, Söldnerdienst und Kreditvergabe eine gesunde finanzielle Basis. Heirat untereinander garantierte gegenseitige Abhängigkeit und Unterstützung. Eine meist universitäre Bildung blieb auf diese Schichten beschränkt. Ämter und Ämterkumulation sicherten Machtstellungen. Über Geld zu verfügen und Ämter innezuhaben war eher die Grundlage von Macht und Herrschaft als Grundbesitz wie früher.

Mit den Franzosen und dann mit der helvetischen Republik gab es zwar neue Herren und ein neues Politsystem. Wider Erwarten wurden die herrschenden Geschlechter durch die Revolution jedoch nicht entmachtet. Schon kurz nach dem verheerenden Einfall der Franzosen, also praktisch ohne Unterbruch, waren viele Persönlichkeiten, die schon vor der Revolution das Sagen gehabt hatten, wieder in einflussreichen Ämtern, ja sogar in der Regierung des Landes zu finden.

Der Verfassungsentwurf von 1798 für die Republik Wallis sah zwar vor, dass die Vererbung von Ämtern, Rang und Ehren abgeschafft wurde. Aber vier Jahre später setzte die Verfassung von 1802 die Ideale der Revolution, die auf «Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit» fussten, nicht konsequent durch.

Gesundheitswesen als staatliche Aufgabe

Die Verfassung der Republik Wallis vom 30. August 1802 sah in Artikel 53 vor: «Einer der Staatsräte wird mit dem öffentlichen Gesundheitswesen beauftragt.» Das Gesetz von 1807 sah einen Gesundheitsrat vor, «die Bevölkerung vor den Gefahren zu bewahren, in die Hände eines Arztes oder eines Chirurgen zu fallen, dessen Unwissenheit ihm den Tod bringen oder ihn zum Krüppel zu machen. Es ist daher Pflicht einer weisen Regierung die Ärzte und Chirurgen zu überwachen.» Das Gesetz von 1834 über die Gesundheitspolizei übernahm das Thema, um «zurechtzuweisen mit wirkungsvollen Bestimmungen die Missbräuche und Fehler, die sich in der Heilkunst integrieren».

Baltschieder unabhängig von Visp

1404 hatte der Landeshauptmann den Baltschiednern – gegen den Willen von Visp – ihre Autonomie bestätigt. Fortan hatte Baltschieder keine Verpflichtungen mehr zum Unterhalt der Visper Brücke. Inzwischen hatte der Besitz des Dörfchens im Norden von Visp offenbar wieder mehrmals gewechselt, denn 1450 kauften die Visper Burger dem Freiherrn von Raron alle Rechte über Baltschieder und Gründen ab. Sie errichteten dort eine Kastlanei, die dort jährlich Gericht hielt. 1528 vereinbarte Visp mit Baltschieder den Unterhalt der Bäume, Brücken und Wege. 1571 befreite die Burgerschaft Visp die Baltschiedner aus der Verpflichtung, gemäss der jede Haushaltung ein Tagwerk an den Dämmen gegen Rotten und Vispa leisten musste.
1799, während der folgenschweren Besetzung durch die französischen Truppen, wurde die Kastlanei aufgelöst. Dadurch wurden die Baltschiedner – einmal mehr – gerichtlich unabhängig von Visp.