Die Jahrzahl 1291 erinnert in der Schweiz zunächst an den Schwur der ersten Eidgenossen aus der Innerschweiz auf dem Rütli. Im nachmaligen Zenden Visp, wo damals die Grafen de Biandrate das Amt des Meiers ausübten, ist dieses Jahr aus einem anderen Grund von grosser Bedeutung:
Im August 1291 trafen sich Leute aus Macugnaga, aus dem Nikolaital und aus dem Saastal in Saas-Almagell (Armenzello). Anlässlich ihres Treffens unterzeichneten sie den sogenannten Schiedsvertrag oder das Landfriedensbündnis. Dabei handelte es sich um einen Akt, der die Streitparteien diesseits und jenseits des Monte Moro wieder zusammenführte und den Streit zwischen ihnen behob. Die Vertragsparteien sicherten sich gegenseitig den freien Verkehr im ganzen Tal zu. Das Abkommen sollte sie fortan vor Überfällen, Räubereien, Brandschatzungen und anderem Ungemach schützen und Handelshemmnisse vermeiden.
In Artikel 2 dieser Vereinbarung, die auch «Friede von Monte Rosa» genannt wird, heisst es: «Die Bewohner des Anzascatals und von Macugnaga sowie die Minenarbeiter und andere Personen sollen ohne Furcht vor Angriffen durch Jocelin, Zannino und die Leute von Visp und ihres Gebietes ins Wallis reisen können.»
Der «Rütlischwur» von Saas-Almagell
Der Vertrag war auf Veranlassung und unter Mitwirkung des Grafen Jocelin de Biandrate von Visp mit der Bevölkerung von Zermatt und Saas einerseits und der Gemeinde Macugnaga anderseits verhandelt worden. Jocelin hatte seinen Sitz in Visp und ihm gehörte seit Längerem schon ein grosser Teil auch des hinteren Mattertals.
Graf Jocelin nahm als Vertreter der Meierei Visp an der Vertragsunterzeichnung teil, zusammen mit seinem Neffen Zanino. Er war gleichzeitig Bevollmächtigter aller Leute von Saas, Stalden, St. Niklaus und Zermatt, die seine direkten Untertanen waren. Gegenpartei waren die Bevollmächtigten der fünf Gemeinden des Anzascatals und von Macugnaga.
Nach dem Tod des Grafen Gottofredo im Jahr 1270 hatten sich die Anzascaner gegen die Herrschaft der de Biandrate erhoben. Wie dem Schiedsvertrag von 1291 zu entnehmen ist, gingen die Leute aus dem Anzascatal als Sieger aus den Auseinandersetzungen hervor. Das Anzascatal erscheint als organisierte Gemeinde von Leuten eigenen Rechts. Macugnaga wird im gleichen Vertrag als eine eigenständige, von der übrigen Valle d’Anzasca gesonderte Gemeinde behandelt, deren Interessen aber von den Repräsentanten aus dem Anzascatal wahrgenommen wurden. Demzufolge hatte das Haus de Biandrate bereits zu jener Zeit auch die Herrschaft über Macugnaga verloren.
Die «Leute von Visp»
Was hat dieser Vertrag mit Visp zu tun? Viel. Der Graf de Biandrate von Visp, der seine Untertanen in seine Missetaten und in seine gewalttätige Machtausübung miteinbezog, war der Hauptgrund für diese Vereinbarung.
Artikel 4 und 5 lauten wie folgt: «Die Leute aus der Valle Anzasca, aus Macugnaga und von anderswo müssen ohne Furcht vor Jocelin, seinen Leuten von Visp auf den Alpen im Anzascatal verkehren können. Für die Leute aus der Valsesia und der Jurisdiktion Novaras unterstehende Personen wird keine Sicherheit gewährt. Der Graf verpflichtet sich, Raubzüge zum Nachteil der Leute von Macugnaga und des Anzascatals zu unterlassen und solche seiner Verantwortung unterstellten Leuten nicht zu gestatten. Ferner hat er dafür zu sorgen, dass kein Raubgut aus der Valle Anzasca und Macugnaga durch andere über das Gebiet der Leute von Visp, Saas, St. Niklaus, Stalden und Zermatt geführt wird.»
Im Vertrag wurde auch festgehalten, man solle einander das Vieh nicht «abtreiben», was darauf hinweist, dass die Pässe in den Hochtälern damals gletscherfrei waren.
Warentransport über Visp oder über Pässe
Waren wurden über Visp oder über die Pässe nach Siders oder Sitten transportiert. Parallel dazu gab es in Evolène eine kleine Zermatter Kolonie, welche die Waren durch das Eringtal nach Sitten weiterbeförderte.
Weit grössere Bedeutung als die Saaser Pässe Monte Moro und Antrona hatte der Theodulpass als Handelsweg zwischen Zermatt und dem Augsttal (Aostatal). Protokollen des Walliser Landrats von 1564 und 1565 (mehr als 250 Jahre später) kann entnommen werden, dass die Zermatter mit etwa 20 Maultieren über den Theodul ins Aostatal zogen, um Wein und andere Waren einzukaufen.
[Siehe auch Kapitel 04.02 «Visp während 120 Jahren unter den Fittichen der Familie de Biandrate».]