Kapitel Nr.
Kapitel 05.08

So blieben die «befreiten» Lötscher weiterhin Untertanen

Das Lötschental, die Dörfer Niedergesteln und Eischoll waren bis 1375 im Besitz der berüchtigten Freiherren von Turn. Diesen gehörte auch das Kandertal. Deshalb war der Lötschenpass schon damals ein viel begangener Weg durch die Berner Alpen.

Lötschental zunächst Eigentum der Herren von Turn

Als das Lötschental Eigentum der Herren von Turn in Niedergesteln war, sollen diese an den Einwohnern der Talschaft «Muthwillen getrieben haben». Einer der Grafen von Turn soll gegen einige ehrliche Mädchen der Lötscher Bevölkerung, die sich seinen Lüsten nicht hatten entziehen können, ein so verruchtes Bubenstück getrieben haben, dass sich die Talbewohner gegen ihn empörten.

Die nämlichen Herren hatten zudem im Jahr 1346 eine Kolonie der Bewohner des Tals – Leute im Lauterbrunnental, genannt die Lötscher – wie eine Herde Vieh dem Kloster Interlaken verkauft, um die Gegend von Gsteig zu bevölkern.

Bevor sich die Visper und die anderen Oberwalliser Zenden des Lötschentals bemächtigten, ereigneten sich innerhalb von zehn Jahren zwei politische Morde.

Der Bischofsmord und seine Folgen

Am 8. August 1375 liess Anton von Turn den savoyenfreundlichen Bischof Witschard Tavel (auch Guichard Tavelli) auf der Burg Seta in Sitten über die Mauer werfen. Die Nachricht darüber verbreitete sich rasch im ganzen Wallis; der Bischofsmord sollte bedeutende politische Folgen haben. Die Wirkung muss für die Landleute umso schlimmer gewesen sein, als sich das Verhältnis zwischen Bischof und Zenden in den Jahren davor erheblich verbessert hatte. Anton von Turn, dem der Mord angelastet wurde, hatte damit das Vertrauen der Oberwalliser endgültig verspielt; die Landleute kündigten ihm den Krieg an.

Der Adel betrachtete den Bischofsmord als Sühne für die Ermordung der Visper Gräfin de Biandrate und deren Sohn Anton, die zehn Jahre davor in Naters getötet und in den Rotten geworfen worden waren. Unter Johannes de Compey, Graf de Biandrate und Meier von Visp, sammelten die Adeligen ihre Streitkräfte in Conthey. Die Landleute, die Zenden, waren in erdrückender Überzahl und schlugen von Turn und seine Gefolgsleute bei St. Leonhard in die Flucht, beschlagnahmten ihren Besitz, zerstörten die Schlösser und Burgen und traten so in die Rechte der nun vertriebenen Herren. [Siehe auch Kapitel 04.02 «Visp während 120 Jahren unter den Fittichen der Familie de Biandrate».]

Lötscher hatten sich getäuscht

Nachdem die fünf oberen Zenden 1375 die Freiherren von Turn im Kampf um das Lötschental besiegt und in die Flucht geschlagen hatten, fielen ihnen deren Güter und Gebiete mit Ausnahme der Gestelnburg in Niedergesteln zu.

Nun drangen die Gommer, Briger, Visper, Rarner und Leuker auch ins Lötschental ein, das zum Untertanenland der von Turn gehörte, und nahmen es zu ihrem Eigentum. Die Lötscher empfingen die vermeintlichen Patrioten bei der Besitznahme ihres Tals als Befreier. Aber schon kurze Zeit später wurde ihnen bewusst, dass sie nach wie vor untertan waren.

Die Grafik zeigt die oberen Zenden und ihre Untertanengebiete: grau eingefärbt das Lötschental, das 1375 von den Herren von Turn befreit wurde und dessen Herren anschliessend die fünf oberen Zenden waren. Grau eingefärbt ist auch das Unterwallis, welches allen sieben Zenden untertan war. Lötschen kaufte sich erst 1790 frei. Im gleichen Jahr begann der Befreiungskampf der Gebiete im Unterwallis.

© Peter Salzmann nach Fibicher

Bischof und Zenden stritten um das Lötschental

Die Lötschentaler wechselten praktisch nur die Herrschaft, sie erwarben keineswegs die Freiheit oder Gleichheit mit den übrigen Landsleuten. Im November 1375 sollte das Verhältnis zwischen Siegern und Besiegten geregelt werden. Das führte aber zu einem Konflikt zwischen dem Savoyen-lastigen Bischof Eduard, der sich als neuer Herr der Talschaft betrachtete, und den Gemeinden, die ja den Waffengang gewonnen hatten. Die fünf oberen Zenden wollten die Früchte ihres blutig erkämpften Sieges nicht einfach dem Bischof abtreten. Dieser betrachtete sich jedoch als neuer Herr über die Talschaft Lötschen; die Gemeinden und Zenden, die alle drei Örtlichkeiten mit Waffengewalt an sich gerissen hatten, sollten dabei leer ausgehen. Es scheint, dass die Gemeinden der Zenden sich dem Willen des Landesherren vorübergehend beugten. Da sogar die päpstliche Kurie bei diesem Vertrag mitmischte, stimmten sie, wenn auch widerwillig, zu.

Zwei Jahre später verlangte Bischof Eduard, selbst Savoyer und liiert mit den von Turn, die Abgaben, die seit jeher an die von Turn gegangen waren; diese sollten nicht mehr an die fünf oberen Zenden gehen, sondern ihm abgeliefert werden. Von da an schien das Lötschental wenigstens in den Augen des Bischofs als Gemeinde mit gleichen Rechten und Pflichten zu seinem Herrschaftsbereich zu gehören. In seinem Auftrag amtete dort vorerst Jakob Fabrorum von St. Niklaus als Meier. 1378 ernannte er Johannes Fabri, Kleriker aus Leuk, zu dessen Nachfolger. Auf der Nordseite wehrten sich die Lötschentaler gegen Angriffe der von Turn, die noch im Kandertal herrschten.

Auch der Zenden Visp herrschte im Lötschental

An Martini 1375 wurde zwischen der Talschaft Lötschen und den Zenden ein Vertrag geschlossen, der die Herren von Turn verdrängte und die Herrschaft der Zenden Goms, Brig, Visp, Raron und Leuk über Lötschen begründete. An deren Spitze stand der Viztum von Leuk, Peter von Roten, der sich immer mehr zum Führer der Zenden aufschwang.

1384, als die Feindseligkeiten zwischen Gemeinden und Savoyern ausbrachen, musste der Bischof aus dem feindlichen Savoyen das Wallis verlassen. Die fünf oberen, die deutschsprachigen Zenden, die schon lange eine grössere Selbstständigkeit gegenüber dem Landesherrn, dem Bischof, bekundet hatten, eroberten damit die Herrschaft der Herren von Turn in Niedergesteln und brachten auch das zuvor von den Adeligen beherrschte Lötschental mit seinen Verbindungen zum Berner Oberland in ihren Besitz. Es begann die «fremdnachbarliche Besetzung» des Lötschentals, die mehr als 400 Jahre dauern sollte.

Bis die Zenden, die als gemässigte und vernünftige Herrscher über ihre Untertanen galten, offiziell die Oberherrschaft und die Gerichtsbarkeit über Gesteln-Lötschen übernehmen konnten, vergingen jedoch insgesamt 55 Jahre. Ab 1430 stellte abwechslungsweise jeder der fünf oberen Zenden auf zwei Jahre den Kastlan, den Landvogt für das Gebiet. Ihm war der Meier des Tals unterstellt, den die Talleute selbst wählen konnten.

Obwohl die Zenden im Lötschental anscheinend ohne grössere Zwischenfälle zum Ziel kamen, besetzten sie das Tal mit ihren Truppen. Mit der Vertreibung der von Turn aus dem Land erhielt das Tal andere, milder gestimmte Herren.

Die Unruhen von 1378 in Visp

Zwei Jahre nach der Ankunft des Bischofs Eduard von Savoyen und dem Abschluss eines Kaufvertrags betreffend die Güter der Herren von Turn brach in den Zenden von Visp aufwärts ein Aufstand los, der vor allem in Visp gefährliche Formen anzunehmen drohte. Anlässlich dieses Aufstands wurde Bischof Eduard ein erstes Mal des Landes verwiesen.

Niedergesteler Burg widerstand sieben Jahre

Hingegen gelang es den Landsleuten auch nach mehrmonatiger Belagerung nicht, die Stammburg Niedergesteln der von Turn aus dem 11. Jahrhundert zu erobern. Herremandus de Yaemberg aus Basel, der Kastlan von Turn, leistete verzweifelten, aber erfolgreichen Widerstand.

Volle sieben Jahre dauerte die Belagerung. Erst am 21. August 1384 wurde die Gestelnburg eingenommen und zerstört. Nach der Eroberung wurde diese Herrschaft von den fünf oberen Zenden Goms, Brig, Visp, Raron und Leuk, welche die lange Belagerung ausgehalten hatten, übernommen.

Ungewohnt: Zenden hatten nun Untertanen

Im Mai 1426 setzten sich die Oberen Zenden mit dem neuen Bischof bezüglich Lötschen auseinander. Es wurde bestimmt: Ein Drittel aller Einkünfte der von Turn’schen Güter gehörten dem Bischof, zwei Drittel den Zenden Goms, Brig, Visp, Raron und Leuk. Die Zenden erhielten das Recht, in Niedergesteln einen Kastlan einzusetzen, der Lötschen und Gesteln zu verwalten hatte.

Für die Zenden, also auch die Visper, ergab sich damit eine völlig neue Lage: Noch nie zuvor hatten sie es mit Untertanen zu tun gehabt. Künftig mussten sie nun abwechslungsweise den Vogt für Lötschen und den Kastlan für Gesteln stellen.

Die Abgaben, welche die Lötscher zu leisten hatten, blieben wie unter den Herren von Turn: Frondienste, Steuern in Geld, Getreide und Butter. Für das Lötschental hatte nur der Herr gewechselt; es blieb Knecht und Untertan wie zuvor.

Die Lötscher, gestählt durch die verschiedenen Freiheitskämpfe, die sie durchgemacht hatten, und etwas kühner geworden durch die kurzzeitig erreichte Freiheit, beschwerten sich sofort bei den neuen Herren, die geforderten Abgaben seien zu hoch.

Talschaft Lötschen litt unter Abhängigkeit

Alle zwei bis drei Jahre zog der Kastlan, der im Turnus auch dem Zenden Visp angehörte, mit 12 Begleitern im Tal ein.

Diesem Vertreter der Zenden musste Gehorsam geschworen werden. Ebenso waren er und sein Gefolge zu bewirten. Unternahm der Zenden eine Arbeit, mussten die Lötscher dabei helfen, auch wenn sie keinen Nutzen davon hatten.

1616 beschlossen die oberen Zenden zudem, der Kastlan könne in Lötschen nach Gutdünken Gericht halten.

Das waren für die Lötscher Missstände, die sie nicht mehr länger erdulden wollten.

Ab 1527 kauften sich die Talbewohner nach und nach von den Zehntabgaben los. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts erlebte die Entwicklung des Tals einen Einschnitt; das gemeinsame Erleben führte die Einzelnen nach und nach zusammen. Als das Zusammengehörigkeitsgefühl bei den Lötschern im 18. Jahrhundert immer stärker wurde, erschien ihnen die Abhängigkeit von den Zenden immer unerträglicher.

Leere Kasse nach dem Loskauf

1790 kauften sich Lötschen und Niedergesteln samt ihren angehörigen Gemeinden, der Kastlanei, auch von der Gerichtsbarkeit los, um den Missständen entgegenzuwirken und auch den letzten Druck der oberen Zenden abzuwerfen.

Um sich endgültig von allen Steuern und Pflichten freizukaufen, bezahlte die Talschaft Lötschen den fünf Zenden insgesamt 9 450 Kronen – worauf der Geldkasten der Talschaft leer stand: «Wiäsch heind sibuhundärtninzig zellt. Düä heds der Talschaft Seckl gfellt». Das nahmen sie in Kauf; nach ein paar Jahren Arbeit würde sich die Kasse wieder füllen, denn jetzt waren keine Steuern mehr zu bezahlen und keine Abgaben zu entrichten. Lötschen war nun frei und hatte eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit; vorher hatten sie von den Zenden alle zwei Jahre einen neuen Richter erhalten. 

Visper hatten Rechte über Lötschen aufgekauft

Der Zenden Visp erhielt von den Lötschern 2 100 Kronen. Nur gerade die adelige Burgschaft Visp und Saas-Fee hatten daran Anteil, denn Visp hatte im Lauf der Zeit die Rechte über Lötschen von den übrigen Gemeinden des Bezirks zusammengekauft; sie teilten den Betrag zu gleichen Teilen unter sich auf. Visp bewahrte den Ablösebetrag in seinem Rathaus, von wo dieser neun Jahre später von den Franzosen «abgeholt» wurde. Hätten die Lötschentaler noch ein bisschen Geduld gehabt und weitere acht Jahre gewartet, wäre ihnen dieser Freikauf erspart geblieben; die Französische Revolution hätte ihnen die Freiheit gratis geliefert.

Nach 400 Jahren fühlte sich das Lötschental, wie es spasseshalber noch heute immer wieder betont, als eigener Kanton.