Kapitelübersicht
Eine Chronik von Visp
Die Urzeiten: Visp unter viel Eis, ein blauer Stein und eine Grotte
Dass das Wallis vor Tausenden von Jahren noch mit Eis und Schnee bedeckt war, ist nichts Neues und wurde auch schon verschiedentlich beschrieben. Geologen haben Fixpunkte ermittelt, mit denen zum Beispiel die Eisdecke über Visp am Ende der letzten Eiszeit – also vor rund 10 000 Jahren – auf etwa 700 Meter Dicke geschätzt werden kann, das Eis konnte wohl noch über Zeneggen in Richtung untere Hellela fliessen.
Damals rückten sowohl die grossen Talgletscher als auch die sogenannten Kargletscher, die in einer schüsselförmigen Vertiefung liegen, erneut und ein letztes Mal vor. Mit ihren Moränen bescherten die Gletscher den Terrassenflächen wie jener von Bürchen-Unterbäch-Eischoll und den Talsohlen der beiden Vispertäler fruchtbare Ackerflächen.
Ebenso trugen die Gletscher Findlinge aus den Vispertälern talauswärts bis ins Rhonetal, eine geologisch fremde Umgebung. Der älteste Zeuge der Urzeiten des späteren Visp, der «Blaue Stein», ist noch heute mitten in der Burgschaft für jedermann sichtbar. Er liegt wohl schon rund 15 000 Jahre lang dort – ein erratischer Block, ein Findling. Fachleute sehen die Herkunft des Blauen Steins am östlichen Ausläufergebirge der mächtigen Mischabelgruppe. Das «vorhistorische» Monument sollte 1938 anlässlich des 550. Jahrestags der Schlacht bei Visp zum Gedenkstein für die historische Schlacht von 1388 werden; es blieb bei der schlichten Jahrzahl, die in die blaugrüne Oberfläche eingeritzt wurde.
Die ältesten Funde, die auf eine Besiedlung von Visp schliessen lassen, liegen oberhalb des heutigen Städtchens, in der sogenannten In Albon-Grotte, die erst vor einem halben Jahrhundert von zwei einheimischen Buben namens In Albon entdeckt wurde. Die Höhle besteht aus verschiedenen Hohlräumen, Schächten und Gängen. Die Funde, die 1985 bei ersten systematischen Ausgrabungen gefunden wurden, stammen aus der beginnenden Spätbronzezeit (1300 bis 800 vor Christus). Dass Keramikfunde am gleichen Standort aus zwei verschiedenen Kulturkreisen stammen (Italien und Nordalpen beziehungsweise Süddeutschland oder Österreich), ist gemäss den Fachleuten aussergewöhnlich und schwierig zu interpretieren. Wozu die Höhle genau diente, ist ebenfalls unklar: War sie ein Zufluchtsort, ein Lagerraum, eine Grabgrotte oder ein ritueller Verwahrungsort? Die Höhle oder Grotte muss von den Fachleuten der Archäologie noch weiter erforscht werden. Deshalb wird ihr genauer Standort nicht bekannt gegeben. Denn bereits haben Laien die ursprüngliche Fundsituation verändert.
Ansonsten gibt es nicht allzu viele Zeugen frühen menschlichen Daseins in Visp. Was aber in der näheren und weiteren Umgebung aus der Zeit vor Christi Geburt zutage getreten ist, dürfte vielfach auch das Territorium des heutigen Visp berührt haben. Zu nennen sind – von Visp aus in den vier Himmelsrichtungen – die Standorte Heidnischbiel bei Raron, der von der Jungsteinzeit bis zur jüngeren Eisenzeit besiedelt war, der Weiler Sisetsch/Zeneggen (Bronzezeit), Oberstalden (Spätbronzezeit) und das Dorf «Waldmatte» in Gamsen aus der Eisen- und der Römerzeit.
Römer, Burgunder, Franken und die Alemannen, die blieben
Nachdem das Wallis in vorchristlicher Zeit von keltischen Stämmen besiedelt worden war, wurde es kurz vor Christi Geburt, im Jahr 15 v. Chr., im Zuge des Alpenfeldzugs von Rom aus erobert und geriet unter römische Herrschaft. Das sollte die Zivilisation des heutigen Wallis zu rascher Entfaltung bringen. Die Vallis Poenina, die zu einem grossen römischen Verwaltungsbezirk gehörte, scheint sich früh und vollständig romanisiert zu haben. Im Vergleich mit den übrigen Teilen der heutigen Schweiz hielt sich die Herrschaft der Römer im Wallis am längsten, vorwiegend allerdings im Unterwallis, in den Zentren Martigny (Octodurum) und Sitten (Sedunum). Im 5. Jahrhundert liessen sich auch die Burgunder im Wallis nieder und wurden als tolerante Besetzer wahrgenommen. Allerdings lässt sich nicht bestimmen, wie weit sie das Rhonetal heraufzogen. Als germanischer Volksstamm brachten sie ihr Recht und ihr Brauchtum mit, verbanden beides mit Elementen römischen Ursprungs und wandelten es klug um. Sie schätzten offenbar die überlegene Kultur ihrer romanischen Vorgänger. Im Oberwallis zeugt einzig der Fund eines Burgunder Friedhofs in Visp von dieser Epoche. In den unteren Zenden des bischöflichen Wallis erhielt sich die romanische Sprache und mit ihr mancher Brauch und manche Sitte aus römischer Zeit. Das burgundische Königreich kam schliesslich unter das Zepter der Frankenkönige, deren Herrschaft auch im Wallis anerkannt wurde.
Vermutlich im 8. und 9. Jahrhundert wanderte schliesslich vom Norden her ein anderer germanischer Stamm ein, die Alemannen. Diese wurden in den oberen Talschaften des Wallis sesshaft, rodeten das Land und errichteten die ersten Wohnstätten. Sie verstanden es, alles Kulturgut, das ihnen fremd war – das romanische – langsam und ohne Zwang zum Verschwinden zu bringen. Im oberen Rhonetal und in den oft nur schwer zugänglichen Bergtälern dürfte der römische Geist aber wohl kaum je gleich stark verwurzelt gewesen sein wie in den unteren Talschaften und die Bewohner lebten vermutlich eher noch nach keltischen Sitten. Die germanische Sprache, das germanische Recht und die Stammessitten der Germanen erlangten hier nun mehr und mehr Geltung. Die Alemannen stiessen nicht auf eine festgefügte, überlegene Kultur wie früher die Burgunder. Damit verschwand oberhalb von Leuk fast alles, was an eine romanische Kultur hätte erinnern können. In Leuk indessen sprach man noch im 13. und 14. Jahrhundert französisch. Dann aber drang das Alemannische immer mehr talabwärts, um schliesslich die deutsche Sprache über Siders bis nach Sitten hinunter zu tragen. Vorübergehend! Es gibt Vermutungen, dass Visp schon im 10. Jahrhundert eine der ersten Grosspfarreien im Oberwallis beherbergte; urkundlich erwähnt wird die Grosspfarrei erstmals 1214.
Alemannische Sprache hält sich im Oberwallis seit mehr als 1000 Jahren
DetailsVisp als Teil des bischöflichen Herrschaftsgebiets dem Rotten entlang
Unmittelbar vor der ersten Jahrtausendwende erhielt das Wallis einen regierenden Fürsten. Rudolf III., der letzte Burgunderkönig, gab Hugo, dem Bischof von Sitten, im Jahr 999 die Grafschaft Wallis zu Lehen. Der König hatte überall, nicht nur im Wallis, einen schweren Stand gegenüber dem machthungrigen Adel. Deshalb erhob er zur Festigung seiner Macht Bischöfe zu weltlichen Fürsten. Diese konnten nämlich keine Familien und damit auch keine Dynastien begründen. Damals reichte das Wallis bis zum Fluss Morge hinunter. Kaiser Konrad II. ernannte den Bischof zum Grafen und dann gar zum Reichsfürsten. So übte der Bischof im Tal des Rottens und in dessen Seitentälern auch die höchste weltliche Macht aus. Wer hatte zuvor in den Dörfern des Wallis das Sagen gehabt? Vermutlich auch der gnädige Herr, vor allem dank der Pfarreien. Der Bischof dürfte das Weltliche bereits über die Kanzeln gelenkt haben, als ihn noch niemand damit beauftragt hatte; im Territorium des Bistums nahm er grossen Einfluss auf Rechtsprechung, Verwaltung und Politik. In der Pfarrei wirkten vermutlich auch praktisch die einzigen Leute, die des Lesens und Schreibens kundig waren und damit bedeutenden Einfluss auf die Bevölkerung nehmen konnten. Auf diese Weise gab es eine gewisse Ordnung im Zusammenleben der Leute, die dauernd ums Überleben kämpfen mussten. Wie sich im Lauf der Zeit zeigen sollte, wurde diese Ballung der Macht zu stark; die Entwicklung in den folgenden Jahrhunderten verlief vor allem zu Lasten der Religion. In Visp – 1140 soll Graf Johann von Visp dem Bischof von Sitten gehuldigt haben – wurden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nun auch grössere Gebäude an markanten Stellen errichtet, zum Teil wahrscheinlich noch früher; einzelne prägen noch heute das Bild der Burgschaft. Zunächst sind die sakralen Bauten zu nennen: die beiden Kirchen auf den höchsten Felsvorsprüngen des Ortes, die das Städtchen bekanntlich noch heute besitzt. Zuerst wurde wohl die «untere Kirche» auf dem Gräfinbiel errichtet; sie hiess anfänglich Marienkirche, Dreikönigskirche und Burgerkirche, denn später wurde sie während Jahrhunderten von der Burgerschaft erhalten und betreut, seit 1935 nennt man sie einfach «untere Kirche». Ebenfalls im 12. Jahrhundert wurde auf dem dritten Felsvorsprung in Richtung Vispa der Aushub für das Fundament des ersten Profanbaus von allgemeinem Interesse in Angriff genommen; Bauherr war ebenfalls der Bischof. Diesmal erstellte er in seiner Funktion als Landesfürst ein Regierungsgebäude für seine Beamten, den Meierturm, wie der stattliche Bau genannt wurde; heute würde man dieses Dienstgebäude Rathaus nennen. Es waren Beamte weltlichen Standes, die den Meierturm in einer der Funktionen Viztum, Meier, Weibel und Mechtral benutzten. Während gut 350 Jahren sollten sie von dort aus die Abgaben zugunsten des bischöflichen Fürstgrafen eintreiben. Daneben verfügten sie auch über niedergerichtliche Kompetenzen. Später wurde der Meierturm auch Lochmatter-Turm genannt, weil ihn vorübergehend eine Familie dieses Namens bewohnte. Der Meierturm ging schliesslich in private Hände über, nachdem der Zenden 1544 am Martiniplatz sein Rathaus erhalten hatte.
Der Meierturm im Hofji: ältestes nicht kirchliches Gebäude von Visp
DetailsGrafen von Visp hatten Meier-Amt vor den de Biandrate
Drei Grafengeschlechter – das erste aus Visp selbst, die beiden anderen aus dem benachbarten Italien – haben während fast 200 Jahren das Amt des Meiers von Visp ausgeübt. Dieses bestand darin, den Bischof von Sitten als bekanntlich auch weltlichen Landesherrn im Gebiet zu vertreten, das praktisch den heutigen Bezirk Visp umfasste, ausgenommen das innere Mattertal, das einen eigenen Meier hatte. Der Meier musste als bischöflicher Beamter gebührend die Interessen des Landesfürsten wahrnehmen, musste Gericht halten und vor allem die verschiedenen Steuern und Gebühren einkassieren. Für damalige Verhältnisse bemerkenswert ist, dass hier ausnahmsweise auch Frauen eine bedeutende Rolle spielten.
Der erste bekannte Meier von Visp war ein Einheimischer, der Graf de Uesbia, also von Visp. Es wird angenommen, dass er sich als Wohnsitz die Hübschburg im Süden der Siedlung erbaute, doch liegen dafür keine Belege vor. Kurz zuvor hatte der Bischof für die Meier einen stattlichen Regierungssitz erbauen lassen, den Meierturm am Hofji.
Der Bischof traute aber den einheimischen Adeligen weniger als Landesfremden, die mehr Erfahrung im Regieren mitbrachten; in Visp waren es die aus Italien stammenden de Castello und de Biandrate. Dabei musste er diese nicht einmal ernennen. Wie es Brauch und Ordnung war, blieben auch hier die Adeligen unter sich. Der Graf de Castello, der bereits über mehrere Besitzungen im Oberwallis verfügte, führte eine Tochter des Grafen von Visp an den Altar.
Und dann wiederholte sich das Szenario: Diesmal heiratete Aldisia, Tochter des Peter von Castello, Gottofredo oder Gottfried II. de Biandrate. Aldisia behielt den in die Ehe gebrachten Titel eines Meiers noch während gut 30 Jahren für sich. Das war der Anfang von 120 Jahren Regierungszeit des in Italien berühmten Geschlechts de Biandrate. Dessen Ende sollte bitter sein: 1334 heiratete Isabella de Biandrate François de Compey aus einer Genfer Adelsfamilie, die Ende des 13. Jahrhunderts ins Wallis gekommen war. Damit waren künftige Schwierigkeiten vorprogrammiert. Isabella fand als Majorissa zusammen mit ihrem Sohn auf der Brücke von Naters einen gewaltsamen Tod.
Die Grosspfarrei Visp erhielt lange nach ihrer Gründung auf dem mittleren Felsvorsprung gegen die Vispa hin ihre eigene Kirche, die dem heiligen Martin geweiht ist. Das einzige Bild dieses zweiten Visper Gotteshauses kam erst ein halbes Jahrtausend später zustande, dem Kupferstecher Merian sei Dank. Gebaut wurde die Kirche ungefähr am Standort der heutigen. Der Turm allerdings stand noch nicht am Felsrand, sondern eher dort, wo sich die Mitte des Gebäudes befindet. Am Bau dürften auch die übrigen Gemeinden beteiligt gewesen sein, welche die Grosspfarrei bildeten, sei es durch Fronarbeit oder durch Beiträge, wenn auch mit Widerwillen. Der Zeitpunkt des Entstehens der St. Martinskirche ist nicht bekannt. Das damalige Kirchengebäude der Grosspfarrei Visp dürfte aber mit mehr als 400 Jahren am längsten für Gottesdienste zur Verfügung gestanden haben.
Meiertum Visp interessierte oberitalienische Adelsfamilien wegen Verkehrswegen
DetailsVisp während 120 Jahren unter den Fittichen der Familie de Biandrate
DetailsAls auch die Visper das Lötschental unterjochten
Im 14. Jahrhundert lässt sich beobachten, wie die Gemeinde Visp, Communitas Vespia, allmählich selbstständig wurde. Wie andere Gemeinden im Oberwallis nahm sie politisch Gestalt an und entwickelte sich allmählich zur Burgerschaft. Visp konnte sich wie die anderen Gemeinden im Landrat an der Regierung beteiligen. Dieser war das «Parlament» des damaligen Wallis, die höchste Gewalt des Bundes der Zenden. Die Boten der Zenden stimmten so, wie die Gemeinden sie instruiert hatten. Zwischen Bischof, Adel und Landleuten – den Gemeinden – begannen die Grenzen der Gewalt zu fliessen; es kam zu unterschiedlichen Allianzen. Zuweilen freuten sich die Gemeinden als lachende Dritte über den immer wieder aufflammenden Kampf zwischen Bischof und Adel. Diese Entwicklungen vollzogen sich vor dem Hintergrund teilweise dramatischer Ereignisse auf Walliser Ebene. Nach wie vor herrschte der Bischof als Landesherr. Die Regentschaft des autoritären und savoyenfreundlichen Bischofs Witschard Tavel gefährdete die relative Unabhängigkeit der Gemeinden unter der Leitung des niederen Adels. Doch das Rad der Zeit liess sich nicht zurückdrehen. Der Bischof legte sich mit den aufstrebenden Gemeinden an, die sich nicht beugen wollten. Er geriet ausserdem in kriegerische Auseinandersetzungen mit den Freiherren von Turn, deren Burg in Niedergesteln stand. Zudem begab sich der Bischof in die Abhängigkeit von Savoyen, sodass das bischöfliche Wallis in den Herrschaftsbereich des Grafen von Savoyen zu geraten drohte. 1355 schlossen die Gemeinden Leuk, Raron, Visp, Naters und von Naters aufwärts bis zur Massabrücke ein Verteidigungsbündnis. Für die Gemeinden war es immer noch besser, unter einem bischöflichen Landesherrn zu leben, der mit beschränkter Machtfülle ausgestattet war, als unter dem Regime eines fremden Herrn aus Savoyen, der über eine straff geführte Beamtenschaft verfügte. Peter II. Werra gilt als treibende Kraft hinter dem Schutzbündnis, das am 24. März 1360 in Visp zwischen Anton de Compey, dem bischöflichen Meier, und ungefähr 30 Männern aus Gemeinde und Pfarrei Visp geschlossen wurde, um eine Front gegen Savoyen zu bilden. Als einer der «sindici communitatum terre Vallesii» war Werra am 11. März 1361 an der Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Amadeus VI. von Savoyen beteiligt.
Eine Serie von Schreckensereignissen begann 1365 mit der Ermordung der Gräfin Isabella de Biandrate und ihres Sohns Anton auf der Rottenbrücke von Naters; Isabella soll gegen den Bischof und für die von Turn gewesen sein. Zehn Jahre später, 1375, liess Anton von Turn Bischof Tavel auf Schloss Seta über die Mauer werfen. Der Bischofsmord wurde den Herren von Turn zum Verhängnis: Die Zenden vertrieben sie gewaltsam und beschlagnahmten ihren Besitz; die Eroberung der Burg in Niedergesteln sollte dann allerdings sieben Jahre beanspruchen. Die Gommer, Briger, Visper, Rarner und Leuker drangen nun auch ins Lötschental ein, das zum Untertanenland der von Turn gehörte, und nahmen es in Besitz. Die Lötscher empfingen sie als Befreier. Sie hatten nicht damit gerechnet, weiterhin Untertanen zu bleiben; ihre neuen Herren waren nun die fünf oberen Zenden, zu denen auch Visp gehörte. Fortan stellte der Zenden Visp im Turnus mit den anderen den Kastlan, den Landvogt für das Gebiet. Die Talbewohner von Lötschen sollten sich erst ab 1527 nach und nach von den Zehntabgaben loskaufen.
1378, unter dem neuen Bischof Eduard von Savoyen-Achaia, kam es zu einem Aufruhr der Gemeinden des oberen Wallis gegen die bischöflichen Beamten und die Grafen de Compey-Biandrate, die verhassten Herren und Meier von Visp. Der Adelige Johannes de Compey, Sohn von Gräfin Isabella de Biandrate und Ritter François de Compey, war damals Meier von Visp. Nicht umsonst entlud sich die Volkswut gegen ihn und seine Besatzungen; mit ihm hatten die Landleute noch abzurechnen. Die Aufständischen, die seinen Turm in Visp eroberten und besetzten, waren zugleich seine Untertanen, die Visper, die Saaser, die Briger. Diese Familie hatte durch Einheirat die Nachfolge der Grafen de Biandrate im Oberwallis angetreten. Sie soll ständig Schwierigkeiten mit den Landleuten gehabt haben. Die de Compey waren denn auch die letzte bedeutende Adelsfamilie «savoyischen Ursprungs» im Oberwallis. Sie waren Parteigänger Savoyens und weil sie in Visp residierten, hätten sie den Gemeinden gefährlich werden können. Der einheimische Adel und mit ihm Johannes III. Werra lehnte sich nicht gegen den Bischof auf, zu dem er in jenen Jahren einigermassen gute Beziehungen unterhielt. Johannes war der langjährige «syndicus» und «procurator» der Gemeinde Visp. Ein offener gemeinsamer Aufstand von Landvolk und einheimischem Adel gegen den Bischof im Jahr 1384 veranlasste den Savoyer Amadeus VII., eine kriegerische Strafexpedition gegen Sitten zu unternehmen. Die Zenden unterlagen. Erst vier Jahre später, am «Mannenmittwoch» (1388) sollten die deutsch sprechenden Gemeinden in Visp siegen. Es dürfte Johannes III. Werra gewesen sein, der mit den Vispern in die Schlacht zog.
In der Mitte des 14. Jahrhunderts erhielt Visp eine Suste, die Pflanzetta. Initiiert hatten diesen Bau der einheimische adelige Johannes de Platea und lombardische Handelsleute. Die Pflanzetta wurde ein bedeutender Warenumschlagplatz im Oberwallis und Raststätte für Handelsreisende, bis die Alpenpässe der Vispertäler gegenüber dem Simplon an Bedeutung verloren.
Während des politisch turbulenten Jahrhunderts hausten in einer Felsennische unter der Pfarrkirche Einsiedlerinnen und Einsiedler – meist Laien –, die sich neben dem Gebet auch in der Bildung engagierten. Ende 1347 wurde das Rhonetal von der ersten grossen Pestpandemie, dem «Schwarzen Tod» erreicht; die Seuche sollte in den folgenden Jahrhunderten auch in Visp immer wieder Opfer fordern.
Heirat mit Visperin begründete Visper Zweig der Urner Familie von Silenen
DetailsFand Schlacht gegen Savoyen 1388 wegen der Gamsenmauer in Visp statt?
Die Schlacht bei Visp, die mit einem sensationellen Sieg der bedeutend schwächer eingeschätzten Einheimischen endete, brachte einen bekannten Reiseschriftsteller – wahrscheinlich, weil er bei seiner Durchreise am Ort selbst nicht mehr in Erfahrung bringen konnte – zu folgender Vereinfachung:
Die Geschichte von Visp lasse sich auf einen einzigen Tag reduzieren, auf den Mittwoch, 23. Dezember 1388, zwei Tage vor Weihnachten. Wenn man Visperinnen und Visper heute dazu befragt, erhält man oft eine ähnliche Antwort. Zweifellos sticht dieser Tag ganz besonders hervor. Savoyen hiess der übermächtige Gegner, der sich schon im 13. Jahrhundert vorgenommen hatte, das Oberwallis und damit den Weg über den Simplonpass an sich zu reissen. Das Unterwallis hatte Savoyen ja schon lange vorher bis unterhalb Sitten erobert. Und gerade wieder war ein Savoyer Bischof und damit auch Graf von Wallis geworden. So beschloss Graf Amadeus von Savoyen im Herbst 1387 wieder einen Waffengang gegen das Oberwallis. Er stiess bis Salgesch vor. Leuk sah sich gezwungen, einen Frieden mit dem Gegner zu unterzeichnen. Graf Rudolf von Greyerz, verwandtschaftlich mit dem Haus Savoyen verbunden, rückte in dessen Auftrag im Dezember 1388 mit zahlreichen Streitkräften aus Saanen, Greyerz, der Waadt, aus der Dauphinée und Savoyen, weiter nach Osten vor. Sie überrannten Raron und lagerten schliesslich auf der unebenen und völlig vereisten Rottenebene vor der Burgschaft Visp. Die Eroberer – ihres Sieges sicher – stellten den Vispern das Ultimatum für eine kampflose Übergabe der Burgschaft. Deren Bewohner holten bei den sorglosen Welschen eine Frist heraus, bevor sie sich ergeben wollten oder auch nicht. Der Kampf fand dann statt und nahm einen völlig unerwarteten Verlauf. Die Visper hatten die Frist zu einer fieberhaften Vorbereitung genutzt. Sie holten Hilfe in der Umgebung und den Vispertälern. In der Burgschaft selbst wurden alle möglichen Waffen gerüstet. Und bevor der Morgen graute, schlichen beherzte Verteidiger in das Lager der bei grosser Kälte schlafenden Feinde und steckten Scheunen, Städel und Zelte, in denen vor allem führende Angreifer untergebracht waren, in Brand. Diese fanden so einen grauenvollen Tod. Dadurch gerieten deren Truppen in helle Panik. Wer nicht von den Wallisern niedergemacht worden war, suchte die Flucht westwärts. Das war das letzte Mal, dass die Savoyer einen Angriff auf das Oberwallis unternahmen. 1475 wurden sie von den sieben Zenden endgültig aus dem ganzen Wallis vertrieben.
Als im späten 20. Jahrhundert die Geschichte der Gamsenmauer aufgearbeitet wurde, ergab sich die Möglichkeit eines durchaus wahrscheinlichen Zusammenhangs mit dieser Schlacht des Jahrs 1388. Die Historiker sind sich einig: Die Talsperre wurde um die Mitte des 14. Jahrhunderts erbaut, um die Savoyer an der Eroberung des Simplonpasses zu hindern. 1388 wurden die Angreifer allerdings schon von den Vispern zurückgeschlagen und nicht erst an der Mauer.
Mit der Schlacht von Visp begann eine neue Ära der Walliser Geschichte: Es entwickelte sich eine unabhängige Zenden-Demokratie, vorerst noch unter bischöflicher Oberhoheit.
Schlacht bei Visp und Talsperre in Gamsen – gibt es einen Zusammenhang?
DetailsJahrestag der Schlacht am «Mannenmittwoch», Blauer Stein als Denkmal
DetailsUnterwallis von Savoyen frei, dem Oberwallis untertan
Nach der Schlacht bei Visp von 1388, bei der die Savoyer unterlagen, war die Angst vor diesen im Wallis nicht mehr so gross. Dennoch blieb das Verhältnis zu Savoyen angespannt. Während der Burgunderkriege (1474–1477) kam es am 13. November 1475 auf der Planta in Sitten zur entscheidenden kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Savoyen und den sieben Zenden des Wallis. Dank der Hilfe von Truppen aus Bern, Freiburg und Solothurn konnten die Walliser mit ihrem Bischof Walter II. Supersaxo das savoyische Heer vernichtend schlagen. Die siegreichen Oberwalliser nahmen in diesem Zug 17 Burgen ein, die sie ganz oder teilweise zerstörten; sogar die Passhöhe des Grossen St. Bernhard besetzten sie. Sie verfolgten die Flüchtenden bis nach Saint-Maurice hinunter; aus der Verfolgung wurde eine Eroberungsexpedition. Sie drängten die unliebsamen «Nachbarn» endgültig bis über den Genfersee hinaus zurück. Zwar versuchte die Gräfin von Savoyen noch, die verlorenen Besitzungen zurückzuerhalten. Vergeblich: Nach dem Tod ihres Verbündeten Karls des Kühnen blieb die Macht bei den Wallisern. Am Landrat von Weihnachten 1477, zwei Jahre nach der Schlacht, beschlossen der Bischof und die Abgeordneten des Landes, das ganze bisher savoyische Unterwallis bis Saint-Maurice zu annektieren. Trotz der Befreiung von der jahrhundertelangen Herrschaft der Savoyer blieb das Unterwallis untertan: Das Gebiet unterhalb von Sitten bis zum Genfersee war nun Untertanenland der sieben oberen Zenden. Der Zenden Visp gehörte auch zu den Vögten des Unterwallis, wie dies bereits seit Jahrzehnten in Lötschen-Gesteln der Fall war. Die Zenden stellten im Turnus Vögte, Beamte, die hier für die Verwaltung zuständig waren, Recht sprachen, die sich auch gerne als Herren aufspielten und den Tribut und die Huldigung der Untertanen entgegennahmen. Für die Erfüllung seiner Regierungsaufgaben erhielt der Vogt eine beachtliche Besoldung, ergänzt durch Naturalien aus dem Untertanenland, oft willkürlich eingezogene Bussen und Strafgelder, womit sich einige Vögte verhasst machten. Es gab acht begehrte Ämter für das Unterwallis und für Lötschen zu verteilen. Dieses Privileg kam fast immer den gleichen Patrizierfamilien zu – Vetternwirtschaft des ausgehenden Mittelalters im höchsten Grad. Innerhalb der Zenden setzte es dann zumeist unter den Honoratioren oft heftige Auseinandersetzungen um die Nominierung ab. Der Kandidat musste die Mehrheit der Zenden hinter sich haben. Später sollten die Zenden ihr Gebiet im Unterwallis noch weiter ausdehnen und weit über das Chablais, ja sogar über Evian hinaus Ländereien erobern, um 1536 die grösste Ausdehnung zu erreichen. 33 Jahre später zogen sie sich auf die noch heute gültigen Grenzen zurück. Die sieben oberen Zenden behielten ihr Privileg während mehr als 300 Jahren bis zur französischen Revolution. Erst dann sollten die Unterwalliser das Joch der oberen Zenden abschütteln, kurz nachdem sich die Lötscher freigekauft hatten.
Im 15. Jahrhundert regierten im Wallis zwei Landeshauptmänner, die aus Visp stammten oder dort lebten und wirkten: in der ersten Jahrhunderthälfte Heinzmann von Silenen, einer der ersten Landeshauptmänner überhaupt und der erste Visper in diesem höchsten weltlichen Amt. Am Ende des Jahrhunderts, als sich mit Supersaxo und Schiner schon die beiden Exponenten der Walliser Politik des frühen 16. Jahrhunderts etablierten, war es Georg Majoris. Aus dem Visper Zweig der Urner Familie von Silenen stammte der Bischof Jost von Silenen, der im Val d’Ossola glücklos Krieg führte und dann abgesetzt wurde und in Frankreich starb.
Erster Visper Landeshauptmann Heinzmann von Silenen aus Urner Familie
DetailsErstarkende Burgerschaft, aufstrebende Familien, schrumpfende Pfarrei
DetailsVisper Landeshauptmann Georg Majoris präsidierte Schiners Wahl zum Bischof
DetailsDie Reformation im Wallis fand 1604 in Visp ihr Ende
Die Reformation, die in den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts zum Bruch mit der römischen Kirche führte, erfasste über Zürich und Bern auch das Wallis. Besonders in Sitten und in Leuk fand der neue Glaube eine beachtliche Zahl Anhänger. Diese gehörten mehrheitlich der schmalen Oberschicht an, was ein Grund dafür sein könnte, dass die Reformation nicht schnell und wirksam um sich griff. Zu Trägern der neuen Ideen wurden die Herrenfamilien, die früher den Bischof im Kampf gegen den Adel unterstützt hatten, ihm nun aber seine Rechte streitig machten: Die weltlichen Rechte des Bischofs wurden allmählich abgebaut. Die Verringerung der weltlichen Macht des Landesbischofs zog die Festigung der Stellung dieser einflussreichen Familien nach sich, auch auf Kosten der Landbevölkerung.
Zum Aufkommen der Reformierten dürften auch die kriegerischen Gelüste des Bischofs und späteren Kardinals Matthäus Schiner beigetragen haben. Die Visper Mächtigen jener Zeit hatte er eher gegen sich; im Duell der zwei Gommer unterstützten sie grösstenteils den Rebellen Jörg Supersaxo.
1518 zerstörte ein Grossbrand um das Gräfinbiel herum den Ortskern von Visp. Die Familie von Kardinal Schiner wurde beschuldigt, das Feuer gelegt zu haben. Die Brandkatastrophe hatte zur Folge, dass im 16. und 17. Jahrhundert in der Burgschaft einige der stattlichen Herrschaftshäuser neu gebaut wurden.
Der Grächner Thomas Platter, der in Zürich mit der Reformation in Kontakt gekommen war, führte um 1530 in Visp eine Privatschule. Als ihn der Bischof mit der Leitung der Walliser Landesschule beauftragen wollte, gab er diesem einen Korb. Stattdessen kehrte er mit seiner Familie nach Zürich zurück und avancierte später in Basel zum Gelehrten. Aus der Ferne liess er Gedankengut der Reformation ins Wallis gelangen, indem er junge Walliser Studenten beherbergte. Umgekehrt versuchten die «alten Orte» (Innerschweiz), im Wallis die Annahme des neuen Glaubens zu hintertreiben, indem sie eifrige Priester ins Wallis schickten.
Es gab Amtsträger aus dem Oberwallis, die nach Sitten in den Landrat gingen, dort mit den bedeutenden Sittener Reformierten liebäugelten und nach ihrer Rückkehr in die heimischen Gefilde keinen Zweifel daran aufkommen liessen, dass sie dem angestammten katholischen Glauben treu waren. Zunächst schienen die Aussichten für die Reformierten auch in Visp günstig zu sein. In der Gemeinde sorgte Pfarrer Petrus Kaufmann für viel Unmut mit seinem ungezügelten Lebenswandel. Obwohl man ihn einen «schlimmen Pfarrer» nannte, durfte er sein Amt ein Vierteljahrhundert ausüben, denn das Bistum liess ihn gewähren. Indessen dürfte es der Reformation kaum genützt haben, dass er den Bischof auf der Kanzel verunglimpfte.
1550 begehrte das Volk gegen die Obrigkeit auf und marschierte in Richtung Visp. Es handelte sich um den sogenannten Trinkelstierkrieg, eine Bauernrevolution und Rebellion geprellter Söldner. Bei den Drahtziehern regten sich auch reformatorische Gedanken; der Unwille gegen viele Geistliche, besonders gegen die Domherren und den Bischof, war gross. Der Aufstand ging ohne Blutvergiessen zu Ende. In der übrigen Schweiz hatten die Religionsparteien längst ihre Lager bezogen. Im Wallis hingegen zog sich das zähe Ringen der beiden Konfessionen – das heisst der protestantischen Minderheit gegen die katholische Mehrheit – ungewöhnlich lange hin und blieb fast 80 Jahre unentschieden. Der Walliser Landtag in der unteren Kirche von Visp führte 1604 schliesslich die entscheidende Wende herbei und setzte der Reformation im Wallis ein Ende. Jene Mitbürger, die reformiert bleiben wollten, wurden des Landes verwiesen.
Der Zendenhauptort Visp stellte im 16. Jahrhundert nicht weniger als sieben Landeshauptmänner: Mit Simon In Albon übernahm 1518 ein erst 26-jähriger Rechtsgelehrter aus Visp das Amt des Walliser Landeshauptmanns. Er vertrat das den zugewandten Ort Wallis an der eidgenössischen Tagsatzung, beim Papst in Rom und auch am französischen Hof. Mit der Erneuerung der Kirche war es ihm ernst. Er handelte als Freund und Testamentsvollstrecker von Jörg Supersaxo und verstand sich sowohl mit Bischof Adrian I. von Riedmatten als auch mit Thomas Platter. Zwei Generationen später wurde Johann In Albon Landeshauptmann; dieses Amt, so sagte man ihm nach, habe ihm fast im ganzen Wallis einschliesslich des Untertanengebiets Unterwallis derart viel Besitz gebracht, dass er es vor Stockalper zum reichsten Walliser brachte. Anton Venetz, Georg Summermatter, Jodok Kalbermatter, der mit Söldnerdiensten reich wurde, Johannes Kalbermatter und Niklaus Im Eich hatten das hohe Amt des Landeshauptmanns ebenfalls inne.
Der Söldnerdienst für Frankreich blühte und brachte einigen wenigen reichen Verdienst. Er forderte aber auch zahlreiche Todesopfer unter den jungen Wallisern, ebenso wie wiederkehrende Pestepidemien.
Simon In Albon: der Visper Landeshauptmann, der dem Kardinal die Stirn bot
DetailsDas Haus der Familie Bischof Adrians I. von Riedmatten am Kaufplatz
DetailsDer Grächner Gelehrte Thomas Platter begann als Schulmeister in Visp
DetailsLandesschiessen, Prominenz, Herrenhäuser und mehr aus den Jahren 1501–1604
DetailsNeue St. Martinskirche mit majestätischem Rippenhelm
Der initiative, baufreudige und grosszügige Pfarrer Mathias Belwalder, der von 1648 bis 1662 Pfarrer von Visp war, liess um die Mitte des Jahrhunderts die neue St. Martinskirche bauen; der Neubau war im Renaissance-Stil gehalten. Am westlichen Felsabgrund versah Belwalder die Kirche mit einem hohen, kunstreichen Kirchturm, der einen Rippenhelm trug – die «Laterne». Noch vor dieser markanten Veränderung des Ortsbildes hatte Matthäus Merian 1642 einen Kupferstich mit der ersten Darstellung von Visp angefertigt. Es handelt sich um eine «Luftaufnahme», also um eines der zahlreichen Städtebilder des Baslers, der in halb Europa studiert hatte. Kenner der Materie loben die Präzision von Merians Darstellungen. Pfarrer Belwalder, der sich auch finanziell erheblich am Bau der neuen Kirche beteiligte, vermachte sein Vermögen testamentarisch der «Kirchenfabrik» von Visp und legte so 1662 die Grundlage für ein eigenes «Fabrikvermögen» der Kirche. Noch heute ist die «Kirchenfabrik» die Bezeichnung für alles, was mit dem Bau von kirchlichen Gebäuden zu tun hat.
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts setzte sich im Wallis die Zendendemokratie durch. Die Gemeinden der sieben Zenden waren alleinige Souveräne der Landschaft, nachdem sie zuerst den Adel, dann die Geistlichkeit und schliesslich den Landesherrn selbst aus dem Regiment verdrängt hatten. Der Fürstbischof hatte immer mehr von seinen weltlichen Rechten verloren. Nach langjährigen Auseinandersetzungen erlangten die Zenden die höchste Gewalt; 1634 rangen sie dem Bischof den Verzicht auf die Landeshoheit ab und liessen ihm nicht viel mehr als den Titel übrig. Als Ehrenrecht wurde ihm der Vorsitz im Landrat zugestanden – neben dem nun faktisch regierenden Landeshauptmann. Der Rat konnte nur über jene Dinge abstimmen, für welche die Abgeordneten von den Zenden mandatiert waren. Während des 17. Jahrhunderts stieg die Bedeutung des Zendenrats, in dem jede Gemeinde vertreten war. Indem sie sich in den sieben Zenden enger zusammengeschlossen hatten, waren die Gemeinden erstarkt. So konnten sie in die Landespolitik eingreifen, ohne dabei ihre eigenen internen Angelegenheiten zu vernachlässigen, für welche die Burgerschaft zuständig war. Die Beratungen und Beschlüsse dieses obersten Organs des Zenden, des Zendenrats, wurden massgebend, obwohl die Gemeinden und das Volk einen grossen Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten behielten. Einzelne Burger schwangen sich allmählich zu Dorfaristokraten empor; sie gewannen sowohl politisch als auch wirtschaftlich einschneidende Vorrechte gegenüber jenen, die bloss ansässig waren. Als die Bevölkerung zunahm und demzufolge die Nutzungsrechte des Einzelnen geschmälert wurden, begannen sich die Burger abzuschliessen. Wer arbeitstüchtig war und einen guten Leumund hatte, wurde gegen Bezahlung einer mässigen Eintrittsgebühr in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Einflussreiche Familien im Visp des 17. Jahrhunderts waren die Zuber, die In Albon, die Burgener und die Venetz. Sebastian Zuber hatte an der Landratssitzung 1604 teilgenommen, als die Protestanten vertrieben wurden, und den Staatsschreiber beerbt; er dominierte die Walliser Politik nicht weniger als 25 Jahre und brachte es sogar zum Landeshauptmann. Zuber geriet in die immer wieder aufflackernden Streitigkeiten zwischen dem Bischof und den Zenden hinein und war auch an Hexenprozessen beteiligt; diese Prozesse stellten damals eine Möglichkeit dar, den Besitz zu vergrössern, denn die Güter der Hingerichteten fielen jeweils dem Kastlan zu. Zuber baute am südlichsten Punkt des Kauffs, des Kaufplatzes, sein stattliches Herrschaftswohnhaus mit einem fünfgeschossigen Treppenturm. Seine Tochter heiratete in die Patrizierfamilie Venetz ein, deren Mitglieder ebenfalls in wichtige Ämter gelangten. Der wohl bedeutendste Visper Politiker der zweiten Jahrhunderthälfte war der dank eines Erbes schwerreiche Heinrich In Albon, Sohn des mächtigen Visper Landeshauptmanns Johannes In Albon und ab 1659 selbst in diesem Spitzenamt. Seine Söhne konnten ihm allerdings nicht das Wasser reichen. Dem Visper Magistraten, Landvogt, Zendenhauptmann, Landschreiber, Landratsabgeordneten und späteren Landeshauptmann Johann Jodok Burgener (1657–1721), auch Hans Jodok genannt, gehörte das Burgener-Haus am Martiniplatz mit seiner dreistöckigen Loggia und dem Turm. Das damalige Patrizierhaus, ein Barockbau, wurde im ausgehenden 17. Jahrhundert errichtet. Bauherrin soll Burgeners Frau Anna Cäcilia Lambien gewesen sein. Heute beherbergt das Gebäude das Gericht.
Während eines Vierteljahrhunderts dominierte Sebastian Zuber die Walliser Politik
DetailsFür die Burgener begann es mit Schuhmachermeister Johann aus Grächen
DetailsVisper Vater und Sohn regierten das Wallis gemeinsam
Nach dem Tod von Bischof Franz Joseph Supersaxo am 1. Mai 1734 wählte der Landrat am 18. Mai unter dem Vorsitz des Visper Landeshauptmanns Arnold Blatter keinen anderen als dessen Sohn zum Fürstbischof von Sitten: den in Visp aufgewachsenen Johann Joseph Blatter, Stadtpfarrer und Domherr von Sitten. Der Gewählte, der als fähigster und würdigster unter vier vorgeschlagenen Kandidaten beurteilt wurde, durfte aus der Hand seines Vaters das berühmte Regalien-Schwert der Landschaft Wallis entgegennehmen. Nun standen zwei Visper, Vater und Sohn, an der Spitze des Wallis, als Bischof und als Landeshauptmann, auch wenn der Bischof die weltliche Macht im Land damals nur noch dem Namen nach besass – eine Machtballung, die einmalig bleiben sollte.
Die Burgener warteten im 18. Jahrhundert mit zwei Visper Landeshauptmännern auf: Der erste in der Familie, Johann Jodok Burgener, hatte das Amt 1707 bis 1721 inne. Franz Joseph Burgener führte die Geschicke des Wallis in diesem Amt 19 Jahre lang; zusammen verbrachten die beiden einen Drittel des Jahrhunderts an der Spitze des Wallis. Später folgten drei Staatsräte mit dem Namen Burgener, die sogar noch länger amteten. Damit übertrumpften die Burgener sogar noch das Visper Geschlecht der In Albon, das fast 200 Jahre zuvor im Wallis den Ton angegeben und mit Simon, Johann und Heinrich gleich drei Landeshauptmänner gestellt hatte. Töchter der Familie Burgener waren mit Landeshauptmännern verheiratet. Die Burgener waren auch mit der ganz nahe wohnenden Familie Blatter verwandtschaftlich liiert. Es folgten Landvögte, Kantonsrichter und ein Präfekt – Adolf, der Urgrossvater der heutigen Generation, der während 46 Jahren Präfekt – als allererster für den Zenden Visp – und ebenso lange Grossrat war. So waren die Burgener die bedeutendste Familie von Visp. In die Amtszeit von Landeshauptmann Franz Joseph Burgener fielen langwierige Konflikte zwischen dem Sittener Domkapitel und den Zenden. Burgener trat den «Anmassungen des Klerus» 1760 mit einer Denkschrift entgegen. Die Zenden hätten den Bischof nie als unumschränkten Herrscher anerkannt, sondern ihm nur ein Recht auf die Gerichtsbarkeit zuerkannt, hielt er fest. Die Souveränität mit all ihren abgeleiteten Rechten sei an die sieben Zenden übergegangen. Alle Mächte hätten das Wallis als eine freie Republik anerkannt. Die mutigen Aussagen sollten Burgener sein Amt kosten.
Um den Bedürfnissen der wachsenden Gemeinschaft am Ort gerecht zu werden, baute die lokale Burgerschaft 1708 am Martiniplatz ein Rathaus, direkt an das Zendenrathaus.
Dem Zusammenschluss der vier bisherigen Gemeinwesen am Terbinerberg zu der einzigen Gemeinde Visperterminen 1715 folgte die Lostrennung von der Mutterkirche. Die einstige Grosspfarrei Visp wurde immer kleiner, denn nach der Jahrhundertmitte machte sich auch Zeneggen kirchlich selbstständig.
Wie Burgener die Souveränität der Zenden gegenüber dem Bischof verteidigte
DetailsPolitische und militärische Karrieren in den Familien Zimmermann und Venetz
Details28. Mai 1799, der schlimmste Tag in der Visper Geschichte
Die Französische Revolution von 1789 fand zumindest im unteren Wallis rasch ein starkes Echo. Lange genug hatte nämlich die Bevölkerung zwischen der Morse unterhalb von Sitten und dem Genfersee unter dem Joch der Mitbürger aus den sieben oberen Zenden zu leiden gehabt, insgesamt mehr als 300 Jahre. Die sieben oberen Zenden des Wallis gerieten deshalb immer mehr unter Druck; anfangs 1798 sahen sie sich schliesslich gezwungen, ihren Untertanen im Unterwallis dieselben Rechte einzuräumen, die den Oberwallisern schon seit 1475 zustanden. Paris hatte das Wallis jedoch schon der Helvetik zugeschlagen. Denn als die Franzosen ihre neuen Errungenschaften vorerst auf die benachbarten Länder auszudehnen begannen, war bald auch die in der Tagsatzung organisierte Schweiz an der Reihe – und damit das Wallis. Das Vorgehen der Truppen Napoleons war brutal. 1798 fielen die Franzosen in die Waadt ein und befreiten sie als Untertanin von Bern. In Bern und in den Waldstätten schlugen sie den Widerstand der Schweizer nieder und richteten viel Unheil an. 1798 brach das Staatsgefüge der alten Eidgenossenschaft zusammen. Die Franzosen schufen die Helvetische Republik und diktierten der Schweiz eine neue Verfassung, die Helvetik. Am 22. März 1798 wurde auch das Wallis der Helvetischen Republik einverleibt und am 10. April desselben Jahres nahm das Volk die Helvetische Verfassung an; wie auf Befehl stimmten die Walliser der neuen Verfassung zu, auch wenn diese den Interessen von Kirche und Klerus ganz und gar nicht entsprach. Als einer der 18 Kantone wurde das Wallis in 12 Distrikte aufgeteilt. Im Oberwallis waren dies: Aernen (Ernen), Brieg, Vischbach (Visp, Viège), Stalden und Leuk (Loëche). Die oberen Zenden entschlossen sich nun, die Freiheit zu behalten und dafür zu kämpfen – offenbar ohne zu überlegen, mit wem sie es zu tun bekommen würden. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Franzosen im Unterwallis nämlich bereits Truppen in beachtlicher Stärke bereitgestellt und in der Schweiz nicht weniger als 72 000 Mann stationiert. Die Walliser wären also gewarnt gewesen, wenn sie es hätten hören wollen. Die Oberwalliser ihrerseits wollten sich mit den neuen Vorschriften ganz und gar nicht abfinden; sie trauerten der alten Ordnung nach und waren zum bewaffneten Widerstand bereit. Innerhalb eines Jahres zogen sie gleich zweimal gegen die französische Übermacht in den Kampf. Die von der Zahl und von der Ausrüstung her hoch überlegene welsche «Maschinerie» setzte sich durch: Zweimal rückten die Franzosen nach abgewehrtem Walliser Angriff plündernd und mordend den Rotten aufwärts, sodass das Land Ende 1799 zerstört am Boden lag. Die Oberwalliser Heerführer hatten die Stärke ihrer Truppen masslos überschätzt und den Gegner in jeder Beziehung unterschätzt. Während es nach der ersten Niederlage bei hohen Finanzlasten und Zwangsrekrutierung in den Dörfern blieb, nahmen die Sieger ein Jahr später keine Rücksicht mehr. Gerade in Visp fochten die Oberwalliser Ende Mai 1799 ihren letzten Kampf, bevor auch hier alles niedergemetzelt, geplündert und zerstört wurde. Das waren die schlimmsten Tage, die das Dorf je erlebt hatte. Aufseiten der Oberwalliser gab es über 400 Todesopfer zu beklagen. Die Eroberer blieben noch über Monate, teilweise sogar Jahre, und liessen sich von den nun verarmten Dorfbewohnern aushalten. Nachdem die französischen Truppen ihr Zerstörungswerk im Wallis beendet hatten, sandte das Direktorium der Helvetik den Berner Franz Samuel Wild als Kommissär an den Rhonestrand. Wo nötig leistete er mit seinen Helfern die dringend benötigte erste Hilfe; dies war in praktisch allen Bereichen des öffentlichen Lebens der Fall. Seine pointierten und gleichzeitig mitfühlenden Berichte geben Einblick in die damalige Gesellschaft des Wallis.
So befreiten sich die Unterwalliser nach 300 Jahren von den oberen Zenden
DetailsWie der Vater von Joseph Anton Clemenz die Schlacht von 1799 überlebte
DetailsAbenteuerlicher Teilungsplan Napoleons: Visper als Franzosen, Rarner als Schweizer
DetailsDer helvetische Kommissär Wild schuf Basis für Wiederaufbau, auch in Visp
DetailsNach mehrmaligem Nationenwechsel nun Schweizer
Das Wallis erlebte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie die Schweiz und Europa eine stürmische Zeit. Die Französische Revolution hatte die bisherige Ordnung und die jahrhundertealten Grenzen über den Haufen geworfen. Zwischen 1798 und 1848 vollzog sich der Übergang von der alten Eidgenossenschaft der dreizehn Orte mit ihren zugewandten Orten wie dem Wallis und den Untertanengebieten zum modernen Bundesstaat Schweiz. Das politische Geschehen im Wallis am Ende des 18. Jahrhunderts, als sich die Walliser den Franzosen entgegenstellten, war schliesslich ein Bestandteil der grossräumigen politischen Ereignisse dieser Zeit.
Die Behauptung, das Wallis sei abgeschieden, entsprach für einmal nicht der Realität. Nach der Jahrhundertwende wechselte es seine staatsrechtliche Form in kurzer Zeit gleich mehrmals. Die Bevölkerung erlebte innert weniger Jahre fünf Staatsangehörigkeiten, das Wallis gehörte verschiedenen «Nationen» an: Bis 1798 war es ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft mit dem Untertanenland «Unterwallis» gewesen, dann wurde es – absolut unfreiwillig – Teil der Helvetischen Republik, anschliessend ein unabhängiger Staat, eine «unteilbare Republik», die allerdings ein Satellitenstaat Frankreichs war (1802–1810), und schliesslich Teil von Frankreich als Département du Simplon (1810–1813), in dem es auch einen «Canton de Viège» mit einem «Maire» gab. Von diesem wurde viel verlangt, seien es Unterkünfte für Soldaten, Angaben für Statistiken, Auskünfte über Gesinnung, Talente und Fähigkeiten der vornehmen jungen Personen mit Potenzial für öffentliche Ämter, über die Lese- und Schreibkompetenzen der «Maires», über auswärts Erwerbstätige, über das Vorhandensein einer Feuerspritze, über die Anzahl Pferde in der Gemeinde und zudem sollte er die Gemeindekasse aushändigen samt «Acten, Pacten, Contracten und Obligationsbriefen». Nach der Niederlage der Franzosen besetzten die Österreicher das Wallis, das von Dezember 1813 bis 1815 einer Übergangsregierung unterstand. Es herrschten Anarchie, wirtschaftliche und soziale Krisen, bis das Wallis 1815 endgültig ein Kanton der Schweiz wurde – als zwanzigster einer der letzten, die beitraten. Ob die Bevölkerung sich immer bewusst war, wohin sie gehörte? Immerhin fasste der Grundgedanke der Aufklärung, die Gleichberechtigung der Menschen, auch im Wallis Fuss, das so zu einer wesentlichen politischen Errungenschaft gelangte, die inzwischen selbstverständlich ist.
Gravierende Auswirkungen für die Oberwalliser Zenden hatte die Aufhebung des Untertanenverhältnisses zum Unterwallis; dieses war nun frei. Allerdings wurde das Recht so ausgestaltet, dass das Oberwallis politisch weiterhin an der Macht blieb. Noch lange musste sich das Unterwallis von den Oberwalliser Zenden ungerecht behandelt fühlen. Die Familien, die bisher an der Macht gewesen waren, konnten sich in ihrer vorteilhaften Position halten.
Ortsintern bestanden nach der Entstehung des Bundesstaats während Jahrzehnten Differenzen zwischen der Visper Burgerschaft, die bis anhin allein geherrscht hatte, und der Munizipalgemeinde, welche das Bundesgesetz neu geschaffen hatte.
Das zweite Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, als das Wallis noch immer die Folgen des Franzoseneinfalls verarbeiten musste, war auch geprägt von einer Hungersnot. Diese war die mittelbare Folge eines Vulkanausbruchs 1815 in Indonesien, welcher der Welt zwei Schlechtwetterjahre mit Missernten, Ernteverlust, Teuerung und hohen Nahrungsmittelpreisen bescherte. Nicht zuletzt diese Hungerjahre dürften dazu beigetragen haben, dass die Gemeinde Albenried, die ein halbes Jahrtausend lang selbstständig überlebt hatte, 1817 zu Visp stiess.
Visper in der «unabhängigen Republik Wallis», losgelöst von der Schweiz
DetailsWegen hohen Unterhaltskosten konnte Visp die Landbrücke endlich dem Staat abtreten
DetailsRottenebene entsumpft: Voraussetzung für Entwicklung
Ein Vierteljahrhundert nach den verlorenen Kämpfen gegen die Franzosen hatte sich die Visper Bevölkerung von den enormen Schäden einigermassen erholt und die Burgschaft teilweise wieder bewohnbar gemacht. Der Boden in der Talebene aber blieb unfruchtbar. Die Burger wussten nicht, wie sie den Folgen der immer wieder auftretenden Überschwemmungen beikommen sollten. Hildebrand Schiner hatte schon 1812 die Ansicht geäussert, die grosse und weite Rottenebene könnte sehr fruchtbar sein, wenn sich die Bodenbesitzer bemühen würden, ihre allzu feuchten Grundstücke zu entfeuchten. Zugunsten der Burger sei hier gesagt, dass sie sich weiss Gott immer wieder bemüht hatten, die Entsumpfung in die Wege zu leiten. Das Wissen dafür war aber bei ihnen einfach nicht vorhanden. Als anfangs der 20er-Jahre des 19. Jahrhunderts das Leben in Visp langsam unerträglich wurde, beauftragte die Burgerschaft eine Kommission damit, die Situation in der Ebene, die der Siedlung nördlich und östlich vorgelagert war, zu analysieren. Deren Bericht, der auch den kantonalen Stellen zugeleitet wurde, endete mit einem alarmierenden Appell an die noch junge Kantonsregierung: «Väter des Vaterlandes, in einem Teil desselben lebt eine ziemliche Anzahl Menschen, deren ehemals fruchtbarer Boden ungeachtet aller Anstrengungen zwischen den zwei wütenden Gewässern (Rotten und Vispa) dem gänzlichen Untergang sich naht und samt seiner Nachkommenschaft in tiefes Elend versetzt wird. Auch wir gehören dem Vaterland an; wir bitten um euere Hilfe!» Der Staat reagierte und sprach einen Beitrag für die Entsumpfung dieser Gebiete. Daraufhin reichte die Kommission das Programm ein, welches sie erarbeitet hatte. Doch Kantonsingenieur Ignaz Venetz, der ganz nahe bei Visp aufgewachsen war, taxierte dieses als nicht brauchbar. Er reichte seinerseits eine Variante der Entsumpfung ein und fügte gleich eine Offerte bei. Die Eingabe überzeugte die Burger, sodass Ingenieur Venetz den Auftrag erhielt, das Überschwemmungsgebiet beachtlichen Ausmasses in den sechs Jahren zwischen 1826 und 1832 zu entsumpfen: Venetz legte die Ebene zwischen Vispa und Rotten bis zu den Seewjinen hinauf trocken. Er schaffte dies parallel zur Neuanlage des Trassees der Kantonsstrasse im selben Gebiet bis Eyholz. Spitzfindige Besserwisser im Burgerrat zeigten sich jedoch vom Gebotenen nicht beeindruckt, sodass der Fachmann die Burgschaft mit einem unguten Gefühl verliess. Der Landrat (Grossrat) des Kantons Wallis indessen war mit den Grundideen von Venetz völlig einverstanden und erklärte diese als vorbildlich, ein Kompliment also für Venetz, der hier bedeutende Vorarbeit leistete. Dass Jahrzehnte später die Eisenbahn von Westen her ins Oberwallis vordringen konnte, wäre ohne vorausgegangene Entsumpfung der Ebene in Visp und die Eindämmung des Rottens unmöglich gewesen.
Es gibt wohl kein Jahrzehnt in der neueren Geschichte des Wallis, das politisch so bewegt war wie jenes von 1839 bis 1849. Da lösten einander drei verschiedene Regimes und nicht weniger als drei Verfassungen ab. Sie zeugen von den Kämpfen, die das Land zwischen Furka und Genfersee erschütterten und wiederholt bis an den Rand des Abgrunds führten. Die Zeit war geprägt von verschiedenen Gegensätzen: zwischen Ober- und Unterwallisern vor allem, zwischen Burgern und Einwohnern beziehungsweise Hintersässen, zwischen Vertretern verschiedener politischer Färbungen – liberalen, radikalen, konservativen –, zwischen Anhängern der Aristokratie und zwischen Kirche und Staat. Auf Gemeindeebene gab es erste Schritte in Richtung Munizipalgemeinde.
Venetz führte technische Neuerungen ein, war Gletscherforscher und sass im Landrat
DetailsMit Schöpfspritze und Hydranten zur organisierten Visper Ortsfeuerwehr
DetailsStaatsrat Burgener, ein Visper als Ehrenburger aller Unterwalliser Gemeinden
DetailsDer allererste Visper Gemeinderat im bewegten Jahrzehnt vor dem Bundesstaat
DetailsMunizipalgemeinde trat 1848 an die Stelle der Burgerschaft
Als der Sonderbund der katholischen Orte, dem das Wallis 1845 beigetreten war, in der bewaffneten Auseinandersetzung von den übrigen Kantonen zerschlagen worden war, übernahmen im Wallis Ende 1847 die Radikalen die Macht und stellten wichtige Weichen. Unter ihrem Regime entstand denn auch die kantonale Verfassung vom 10. Januar 1848. Darin wurde die Gleichstellung aller Walliser vor dem Gesetz verankert und man führte die Pressefreiheit wieder ein; alle Bewohner erhielten das Recht der Niederlassung. Der Klerus verlor seinen Einsitz im Grossen Rat. Die geistlichen Ämter erklärte man für unvereinbar mit den weltlichen Ämtern und der Ausübung der politischen Rechte. Das Volk konnte nun den Grossen Rat direkt wählen. Die Kantonsregierung erfuhr eine Stärkung. Mit dieser Verfassung und der daraus folgenden Gesetzgebung fand das Wallis bereits weitgehend seine heutige Organisation. «Wallis bildet einen souveränen und als Kanton der schweizerischen Eidgenossenschaft einverleibten Staat. Die Souveränität beruht auf der Gesamtheit der Walliser Bürger. Die Regierungsform ist eine repräsentative Demokratie», lautete Artikel 1 der kantonalen Verfassung. Die neue schweizerische Bundesverfassung wurde im Walliser Grossen Rat fast ohne Gegenstimmen angenommen; das Volk indessen lehnte sie am 20. August mit grossem Mehr ab, im Oberwallis fast einstimmig. Nach der Zustimmung der Mehrheit der Kantone erfolgte am 12. September 1848 die Inkraftsetzung dieser Verfassung. Der Bundesstaat wurde Tatsache.
Mit der neuen Verfassung wurden die Burgerschaften zugunsten der neuen Munizipalität abgewertet, die Gleichstellung aller Schweizer vor dem Gesetz, die Presse-, Handels-, Gewerbe- und Kunstfreiheit eingeführt, Deutsch und Französisch als Landessprachen bestimmt. Der Klerus wurde aus den politischen Ämtern verbannt. Der Schriftsteller Alex Capus schilderte die damalige Situation wie folgt: «Die Schweiz, gegründet 1848 als mausarmes Agrarland ohne nennenswerte Rohstoffe. Die Gründerväter haben alles geschaffen, worauf die moderne Schweiz stolz ist: Freiheit, Chancengleichheit, direkte Demokratie, Föderalismus, Milizsystem, bewaffnete Neutralität, Friede, Wohlstand, soziale Sicherheit. Vor 1848 gab es nichts davon, alles danach.»
Artikel 4 der neuen Bundesverfassung lautete: «Alle Schweizer sind vor dem Geseze gleich. Es gibt in der Schweiz keine Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.» Erstmals war damit die Rechtsgleichheit – ein Grundpostulat der Französischen Revolution – ausdrücklich anerkannt, auch im Wallis. Bis dahin war nur der Burger als aktiver, selbstständiger Bürger anerkannt gewesen. Da die Schweiz bis zum Jahr 1848 ja nur ein loser Staatenbund gewesen war, hatte es bis zu diesem Zeitpunkt keine schweizerische Staatszugehörigkeit und somit auch kein schweizerisches Bürgerrecht gegeben. Das war bis dahin, während gut einem halben Jahrtausend bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, für die eine Hälfte der Bewohner auch in Visp die harte Realität gewesen. Damals zählte Visp rund 500 Einwohner und etwa 100 Stimmberechtigte. Es hatte einerseits Burger oder Gemeinder und auf der anderen Seite Nichtgemeinder, genauer gesagt Geduldete gegeben, und eine grosse Zahl von Heimatlosen und somit krass Benachteiligten. Mit der neuen Bundesverfassung verschwanden diese grossen Unterschiede mit einem Federstrich – zumindest theoretisch. Die Kantonsverfassung von 1848 liess auch die in den Walliser Gemeinden niedergelassenen Schweizer Bürger zur Urversammlung zu, sofern die Walliser in deren Herkunftskanton gleiche Rechte genossen.
Als 1848 das Datum der «Machtübergabe» an die neue Visper Munizipalgemeinde nahte, bangten die Burger um ihre Vorteile, ja um die Weiterexistenz ihrer über Jahrhunderte bewährten Institutionen. In grosser Panik fassten sie verschiedene Rettungsmassnahmen ins Auge. So wollten sie einmal mehr das Burgervermögen vor dem kommunalen und staatlichen Zugriff schützen – durch die Verteilung an die einzelnen Burger. Auch alle Liegenschaften mit Ausnahme der Burgerkapitalien und der Burgergebäude sollten unter die Burger verteilt werden. Man war in Sorge um die Zukunft der Institution Burgerkorporation. So wurde 1848 in Visp beschlossen: Sämtliche Liegenschaften mit Ausnahme der Burgerkapitalien und der Burgergebäude sollten unter die Burger verteilt werden. Dazu kam es aber nicht mehr.
Auf lokaler Ebene war die wesentliche Neuerung die Munizipalgemeinde. Deren Wirkungskreis galt es nun neben der jahrhundertealten Burgerschaft aufzubauen. Den Munizipal- und Gemeinderäten der Gemeinde Visp, die ihre Arbeit im Februar 1848 unter der Leitung von Donat Andenmatten aufnahmen, wurden unter anderem das Polizeiwesen im Innern der Ortschaft und die Feldpolizei überantwortet. Auch die Aufsicht über das Schulwesen, das in einem desolaten Zustand war, unterstand ihnen.
Zögerlicher Übergang zur Munizipalität; fehlende Zustimmung zu Kanton und Eidgenossenschaft
DetailsVisper Gemeinderat nahm seine Arbeit auf: nun führte die Munizipalgemeinde
DetailsNun gleiche Rechte für Burger, Gemeinder, Nichtgemeinder, Geduldete, Hintersässen und Heimatlose
DetailsDie Visper Schule und das desolate Walliser Bildungswesen zur Zeit des Bundesstaats
DetailsJahrhundert-Erdbeben, Hochwasser, Korrektion von Rotten und Vispa
Als man zuversichtlich dabei war, die neue Gemeindeorganisation aufzubauen, wandte sich die Natur erneut gegen die Weiterentwicklung des Ortes und tat dies so heftig wie noch nie zuvor: Ein Erdbeben der Stärke 6.4 warf Visp 1855 wieder schwer zurück. Praktisch sämtliche Gebäude wurden unbewohnbar. Wie durch ein Wunder gab es keine Toten zu beklagen. Dieses Erdbeben war nach jenem in Basel von 1356 das zweitstärkste, das in der Schweiz je registriert wurde. Zelte in den östlich gelegenen Baumgärten dienten für längere Zeit als Notunterkunft. Auch die beiden Kirchen wurden schwer beschädigt. Besonders schmerzlich war für viele Visper, dass der 200 Jahre alte, in unseren Gefilden einmalige Turm der St. Martinskirche, Wahrzeichen der Ortschaft, dem Beben zum Opfer gefallen war. Die Visper aber bauten ihr Dorf wieder auf, der Kirchturm wurde 1856 provisorisch mit einem Satteldach versehen – für mehr als 40 Jahre. Der Rippenhelm wurde nicht mehr aufgebaut.
1860, fünf Jahre nach dem Erdbeben, wurde vieles wieder zerstört, als die Vispa einmal mehr über die Ufer trat und Schäden in einem noch nie gesehenen Ausmass anrichtete. Visp stellt einen Sonderfall dar, denn hier kommen die Wasser vieler Gletscher in den beiden grössten Walliser Flüssen zusammen. Entsprechend gross war früher die Überschwemmungsgefahr. Die Ausdehnung der Siedlung ins Tal hinaus war praktisch unmöglich; die Bevölkerungszahl entwickelte sich kaum. Erleichterung brachte erst die Korrektion der Flussläufe in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts. In Sitten war man endlich erwacht, nicht zuletzt dank Kantonsingenieur Venetz: 1863 begann die erste Korrektion des Rottens, die mit bedeutenden Bundes- und Kantonsbeiträgen finanziert wurde. Die Notwendigkeit dieser Massnahme wurde endgültig unter Beweis gestellt, als 1868 eines der schlimmsten Hochwasser auftrat. Die Korrektion war der entscheidende Schritt in eine bessere Zukunft des ganzen Tals nach unzähligen verheerenden Überschwemmungen. Auch die Vispa wurde endlich «diszipliniert», indem man ihr Bett vom Schwarzen Graben an den heutigen Ort verlegte. Wehreye, Bockbart, Schwarzer Graben, Grosseye und Pomona liessen sich so endlich mittels Kanälen trockenlegen und sukzessive in Kulturland umwandeln. Unter anderem wurde auch der Bau des Bahntrassees ermöglicht, damit die Eisenbahn von Westen her das Tal herauf bis Visp und Brig geführt werden konnte.
Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts brachte Visp in der Person des Visper Burgers Joseph Anton Clemenz einen Politiker hervor, der während Jahrzehnten dem Wallis seinen Stempel aufdrückte, vor und nach der Entstehung des eidgenössischen Bundesstaats. Clemenz war mehrmals Burgermeister von Visp und dann auch dessen Gemeindepräsident. Mehr als 30 Jahre lang sass er im kantonalen Parlament und war auch neun Jahre hintereinander Präsident des Grossen Rats. Zweimal gehörte er als Staatsrat der Kantonsregierung an, 1843 am Anfang seiner Karriere und 1871 gegen Ende seines Lebens. Er war der allererste Walliser Nationalrat des neuen Bundesstaats und gleich dreimal in der kleinen Kammer, im Ständerat – dies zu verschiedenen Zeiten. Zudem war Clemenz während Jahrzehnten Zendenrichter und dann Untersuchungsrichter des Bezirks Visp. Später gehörte er dem Appellationsgericht an, vergleichbar mit dem heutigen Kantonsgericht. Er gehörte zu den weitsichtigen, fortschrittlich denkenden Leuten im Wallis. Clemenz war ausserordentlich erfolgreich, auch als Hotelier. Als er starb, 1872, waren die Oberwalliser wohl erst auf dem Papier Schweizer: Bei der Volksabstimmung über die umfassende Revision der Bundesverfassung gab es in der Gemeinde Visp nur ein einziges Ja, im Bezirk Visp nur gerade vier und im Oberwallis standen lediglich dreizehn Ja-Stimmen fast 3 000 Nein gegenüber. Die führenden Aristokraten hatten zusammen mit dem Klerus, der seine Interessen mit der neuen Verfassung alles andere als vertreten sah, ihren Einfluss rigide geltend gemacht und das Stimmvolk mit Erfolg für ihre Eigeninteressen einzuspannen vermocht.
Die Übergabe der lokalen politischen Macht von der Burgerschaft an die neue Munizipalgemeinde nach der Einführung des Bundesstaats zog sich hin. Die bisherigen Gemeindevorsteher hatten Mühe, sich von den über Jahrhunderte erworbenen Vorrechten zu trennen. Obwohl sich der neue Gemeinderat während dem ersten halben Jahrhundert ebenfalls aus lauter Visper Burgern zusammensetzte, kam es immer wieder zu teils heftigen Auseinandersetzungen. Die Differenzen gipfelten im ersten Steuerstreit. Die neue Munizipalgemeinde hatte die Pflicht und die Kompetenz, alljährlich Steuern zu erheben. Diesbezüglich fiel die Burgerschaft am meisten ins Gewicht; erstmals in ihrer jahrhundertealten Geschichte musste sie zahlen statt einzukassieren. Als eben diese erste Steuerrechnung doppelt so hoch ausfiel wie die Einnahmen der Burgerschaft, schlug das dem Fass den Boden aus. Es folgte ein Rekurs an den Staatsrat und der Konflikt zog sich über Jahre hin. Schliesslich einigten sich die Visper unter sich; bei gutem Willen wäre dies bedeutend früher möglich gewesen.
Hochwasser: häufige Überschwemmungen verhinderten Ausdehnung der Siedlung Visp
DetailsErste Rottenkorrektion – ein Werk öffentlichen Nutzens, welches Entwicklung ermöglichte
DetailsClemenz, der vielseitigste Oberwalliser Politiker des 19. Jahrhunderts
DetailsPriorität hatte das Leben in der Gemeinde – nicht die Eidgenossenschaft
DetailsEisenbahnen brachten Höhen und Tiefen für Visper Tourismus
Die Korrektion der Flussläufe von Vispa und Rotten auf Visper Boden in den 60er- und 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts war unumgängliche Voraussetzung für die künftige wirtschaftliche Entwicklung von Visp. Sie ermöglichte das Anlegen des Trassees für die von Sitten her eintreffende Eisenbahn, die ihrerseits Voraussetzung für das Ansiedeln von Unternehmen war und der räumlichen Isolation des Oberwallis während zwei Dritteln des Jahres ein Ende bereitete. Diese Infrastrukturprojekte waren entscheidend für eine bessere Zukunft des ganzen Tals. So traf 1876 die Eisenbahn von Sitten und Leuk her in Visp ein. Der Bahnanschluss, der 1878 nach Brig weitergeführt wurde, eröffnete für Visp neue Perspektiven und brachte bedeutenden wirtschaftlichen Fortschritt: Von Lausanne her trafen erheblich mehr Touristen ein, die zumeist gut betucht waren. Sie kamen vor allem aus England, aber auch aus Deutschland und Frankreich. Ihr Ziel war fast durchwegs Zermatt mit dem faszinierenden Matterhorn, wo der Tourismus nun eine regelrechte Blüte erreichte. Dies lässt sich unter anderem daran ermessen, dass 1880 bei der Gemeindeverwaltung in Visp nicht weniger als 144 Pferdehalter und Träger eingeschrieben waren. Diese beförderten die in Visp eintreffenden Gäste und deren Gepäck mit Maultieren und Sänften auf dem noch schlecht ausgebauten Weg zu den Kurorten zuhinterst im Matter- und Saasertal. Das Kutschergewerbe florierte. Auch mit Beherbergungen war einiges zu verdienen; die Gäste rasteten und übernachteten in den lokalen Hotels und Herbergen von Visp, die in dieser Zeit gebaut wurden. Übernachtungsmöglichkeiten gab es im «La Poste», im «Soleil» und im «Mont Cervin».
Visper Hotel-Pioniere eröffneten Betriebe in Zermatt und Saas-Fee. Prominentestes Beispiel ist der polyvalente Visper Politiker Joseph Anton Clemenz, der 1852 – sogar noch vor dem legendären Hotelier Seiler – in Zermatt sein Gästehaus von beachtlicher Grösse eröffnete: das erste, welches die Bezeichnung Hotel verdiente. Das verschwägerte Visper Duo Severin Lagger und Franz Stampfer belebte die Hotelbranche in Saas-Fee, nachdem es in Visp bereits das La Poste betrieben hatte.
Als dann aber 1891 die Visp-Zermatt-Bahn direkt an den Fuss des Matterhorns führte, wurde Visp zum reinen Umsteigebahnhof reduziert; ein grosser Teil des bisherigen Visper Tourismus verschob sich in den Süden. Nach nur 15 Jahren war der Boom zu Ende; auf den ersten vorübergehenden touristischen Höhepunkt dank der Ankunft der Bahn folgte eine Durststrecke. Es drohte ein Rückfall in die seit Jahrhunderten praktizierte Selbstversorgung, denn die Entwicklung von der landwirtschaftlichen zur industriellen Gemeinde setzte in Visp sehr spät ein. Erst mit dem Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert begann sich der Ort allmählich aus der Enge der mittelalterlichen Vorstellung von Wirtschaft zu befreien.
Nach dem Einbruch des Tourismus zeigte sich die Bedeutung der Bahn für die kommende industrielle Entwicklung von Visp. Sie war wie vorher die Rottenkorrektion Voraussetzung für die im 20. Jahrhundert einsetzende Industrialisierungsphase. Es bestand ausgeprägter Bedarf nach Arbeitsplätzen, deren Entstehung noch bis zur Ankunft der Lonza auf sich warten liess. Freilich mögen heute die Industrie, der Handel und das Gewerbe jener Zeit klein und unbedeutend erscheinen. Dennoch bedeuteten diese Entwicklungen für das Wallis den Aufbruch in eine neue Epoche. Sie hatten einen bisher nie dagewesenen Umbruch in der Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftsstruktur der Region zur Folge. Die bäuerliche, jahrhundertealte Selbstversorgungswirtschaft wurde direkt durch das Fabrikzeitalter abgelöst.
Von den 1890er-Jahren an erlebte die Walliser Wirtschaft eine Beschleunigung. Es entstanden neue, kleine Produktionsbetriebe, Fabriken in der Talebene, 1888 eine Konservenfabrik in Saxon, eine Tuchfabrik in Brämis, eine Likörfabrik in Martigny, eine Dynamitfabrik in Gamsen, nachdem unter anderem schon 1858 eine grössere Sägerei in Brig, eine Bierbrauerei in Sitten, eine Tabakfabrik in Monthey gestartet hatten. Einzig in Visp tat sich diesbezüglich vorläufig noch nichts: Nach wie vor dominierte die bäuerliche Selbstversorgung die Lebensbedingungen der meisten Familien, 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung.
Das politische Leben im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war im Wallis gekennzeichnet von einer – forcierten – bescheidenen Öffnung der seit Jahrzehnten herrschenden Klasse gegenüber Aufsteigern, die nun ebenfalls einen Platz an der Sonne für sich beanspruchten. Für alle übrigen blieben die Spielregeln unverändert; es ging ihnen nicht so sehr um die Regierung des Landes mit einer wirklichen politischen Verantwortung, sondern um eine Verbesserung ihres Alltags.
Lonza brachte massiven Fortschritt in der Wirtschaft
Beim Silvesterausklang 1899 machte in Visp die Nachricht die Runde, dass es punkto Industrie-Ansiedlung zu einer bedeutenden Wende kommen könnte. Die Leitung der Lonza AG in Gampel habe festgestellt, dass eine räumliche Ausdehnung ihrer Chemiefabrik, die dort produzierte, nicht möglich sei. Als Ersatz habe man Visp ins Auge gefasst. Nach den vergangenen Jahren, in denen infolge des Verschwindens vieler Arbeitsplätze im Tourismus weitgehend Schmalhans in den Familien Einzug gehalten hatte, nahm man dieses Gerücht bei der Visper Gemeindeverwaltung mit Interesse zur Kenntnis. Ausschlaggebend für den Einzug der Industrie im Oberwallis war namentlich der Ausbau des Eisenbahnnetzes im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gewesen – eine unerlässliche Voraussetzung für die Zufuhr von Rohstoffen und für den Absatz der hergestellten Produkte. Zudem waren gewaltige ungenutzte Wasserkräfte vorhanden, was die Produktion von Strom ermöglichte. Ein dritter Trumpf war, dass kostengünstige Arbeitskräfte eingesetzt werden konnten.
Dass Visp schon früh auf Industrieanlagen pochte, zeigt die folgende Episode: Die Gemeinde Visp sprach 1905 beim Staatsrat ein, als dieser daran war, eine Konzession zur Nutzung der Wasserkräfte im Saastal zu erteilen. In einer Eingabe vom 25. November ersuchte die Gemeinde die Kantonsregierung, die Konzession nur zu erteilen, wenn die Wasserkräfte wenigstens zum Teil innerhalb des Bezirks – gedacht war natürlich die Gemeinde Visp – Verwendung fänden, und zwar nicht bloss für die Einführung des elektrischen Lichts, sondern auch für entsprechende Fabriken. Der Gemeinderat argumentierte: «… dagegen möchten wir Verwahrung einlegen gegen die Wegführung von Wasserkräften zum Zwecke der Erstellung von Fabriken und Industrien ausserhalb des Bezirkes, da der Bezirk Visp genügend Gelegenheit bietet zur Errichtung und günstiger Ausnützung solcher Unternehmen».
Die Visper Gemeindebehörden empfahlen der Urversammlung vom 21. April 1907 die Niederlassung der Lonza AG mit ihren Chemiewerken, was einhellige Zustimmung fand. Offenbar war es gelungen, der Bevölkerung zu vermitteln, dass die Lonza Arbeit für viele hatte und damit der ganzen Region ein besseres Leben bringen konnte. Dem Bau des Produktionswerks der Fabrik standen keine Hindernisse im Weg, ebenso wenig wie dem Bau der Zentrale im Ackersand, welche die Nutzung des Wassers aus den Vispertälern zur Stromproduktion ermöglichte; die Energie kam aus dem Saastal.
Die Lonza blickte schon auf 10 Jahre praktische Erfahrung im Oberwallis zurück, als sie 1907 nach Visp kam. 1909 eröffnete sie ihr Visper Fabriktor, nachdem sie hier genügend Boden und sogar Reserven gefunden hatte, und nahm die Herstellung chemischer Produkte auf. Sie sollte sich Schritt für Schritt erweitern und auch mehr als hundert Jahre danach mit ganz anderen Schwerpunkten in Visp präsent sein.
Weil Fachkräfte im Land am Rotten fehlten, musste die Lonza ihr Personal fast ausschliesslich aus der übrigen Schweiz rekrutieren. Die Oberwalliser im Werk, auch die begabteren unter ihnen, blieben zumeist Hilfskräfte, da ihnen die schulischen Voraussetzungen für anspruchsvollere Anstellungen fehlten. Das Bildungswesen war auf das industrielle Zeitalter nicht vorbereitet und sollte es noch längere Zeit nicht sein, wie der Antrag der Gemeinnützigen Gesellschaft bei der Gemeinde Visp von 1916 zeigt: Als es darum ging, eine Art Gewerbeschule einzurichten, war die Antwort des Visper Rathauses ein unmissverständliches «Niet». Zudem wurde nun auch in der Bevölkerung – entgegen der Meinung der Schulbehörden – die Qualität der hiesigen Primarschulen heftig infrage gestellt. Diese Missstände dürften zu einem Umdenken geführt und die Aufmerksamkeit auf die Situation des Schulwesens gelenkt haben. Erster Schritt zur Verbesserung der örtlichen Schule war der Bau eines Schulhauses westlich unterhalb der unteren Kirche, um genügend Räumlichkeiten für den Unterricht bereitzustellen, denn die bisher benutzten Räume platzten regelrecht aus allen Nähten. Der Bau erfolgte 1907 parallel zur Ansiedlung der Lonza in Visp.
Am neuen Industrieort formierten sich politische Parteien
Kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert zeichnete sich in Visp ab, dass ein wirtschaftlicher Aufschwung dringend notwendig war. Im Unterschied zu den übrigen grösseren Orten in der Talebene des Rottens, die sich über industrielle Betriebe kleineren Ausmasses freuten, begann sich in Visp mit der Lonza ein bedeutend grösserer Arbeitgeber breitzumachen; das bedeutete Arbeit, Geld, Steuern und Fortschritt. Als das Unternehmen im Gurtengrund seine ersten Fabrikhallen aufstellte, drängte sich eine zentrale Wasserversorgung mit Hydrantenanlage auf. Aber erst 1911 wurde das Trinkwasserprojekt mit Kosten von 120 000 Franken genehmigt. Gleichzeitig fasste man im Baltschiedertal zusätzliche Quellen. Die Hydrantenanlage erlebte bei einem Grossbrand an der Überbielstrasse regelrecht ihre Feuertaufe.
Das Wasser aus dem Saastal ermöglichte die Produktion des Stroms, der vor allem für den Betrieb der Fabrikanlagen unerlässlich war. Als aber die Lonza der Gemeinde die Führung des Stromverteilnetzes anbot, sagten die Visper Gemeinderäte nein. Die Behörden waren noch nicht alle vom Fortschrittsgedanken überzeugt. Auch in der Gemeinde Visp beherrschten die Konservativen das Geschehen, die wie im übrigen Oberwallis praktisch das ganze 19. Jahrhundert hindurch regiert hatten. Stützen der konservativen Macht waren die führenden Familien sowie der politische und bürgerliche Katholizismus, der den Liberalismus bekämpfte und dafür auch beim Klerus Unterstützung fand.
Eine Neuerung im politischen System bewirkte in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, dass fortan auch kleinere lokale Parteien zum Zug kamen. Nach der kantonalen Verfassung von 1907 war für die Gemeinderats- und Burgerratswahlen das Mehrheitssystem (Majorz) massgebend, womit der Mehrheit besser gedient war. Wenn allerdings 20 Prozent, das heisst ein Fünftel der Stimmberechtigten das Verhältniswahlsystem (Proporz) verlangten, kam dieses zur Anwendung. Auf die Gemeinderatswahlen von 1908 hin war mit dem Inkrafttreten des Wahlgesetzes vom 13. Mai 1908 also die Wahl nach dem gerechteren Verhältniswahlrecht möglich – elf Jahre bevor dieses 1919 erstmals bei den Wahlen ins eidgenössische Parlament zur Anwendung gelangte.
In Visp errangen als erste Oppositionspartei die «Fortschrittlichen» vereinzelte Sitze im Gemeinderat. Ihre Basis waren jene, die das Bestehende als rückständig wahrnahmen, und Angehörige der reformierten Konfession, die bei den Konservativen ausgeschlossen waren, weil diese im Namen ausdrücklich das Wort «katholisch» verwendeten.
Die Sozialisten, deren Hochburg wegen Bahn und Zoll Brig war, konnten nach einem einmaligen Erfolg im Jahr 1924 erst wieder in den Siebzigerjahren im Visper Gemeinderat vorübergehend Einzug halten.
Ab 1936 benannten sich die Fortschrittlichen in «Demokraten» um und erarbeiteten sich mehr und mehr Terrain, bis sie 1945 in einer sensationellen Wahl die Katholisch-Konservativen für vier Wahlperioden in die Minderheit versetzten.
Was Adolf Fux und seinen Getreuen nach dem Zweiten Weltkrieg gelang, erreichten die zur Volkspartei vereinten Katholisch-Konservativen und Christlichsozialen 1960, also 16 Jahre später, mit Hans Wyer: Sie errangen die Mehrheit und das Gemeindepräsidium, das fortan die Christlichsozialen (die «Gelben») und anschliessend die Katholisch-Konservativen (die «Schwarzen) behalten sollten. Die Katholisch-Konservativen und die Christlichsozialen gerieten unter sich in ein Oppositionsverhältnis; so gewann Peter Bloetzer 1976 das legendäre Duell um die Präsidentschaft gegen Ignaz Mengis.
Als 1971 endlich das Frauenstimmrecht kam, stellten die Demokraten die erste Frau im Gemeinderat und 1992 wurde Ruth Kalbermatten erste Gemeindepräsidentin: Die CVP-Frau übernahm das Amt nach mehr als drei Jahrzehnten von den «Gelben». Fortan verblieben den Demokraten, später unter der Bezeichnung FDP, ab 1976 den Sozialisten und viel später, 2012, der SVP nur noch vereinzelte Sitze im Visper Gemeinderat.
Die Katholisch-Konservativen blieben in Visp souverän vorne – bis 1945
DetailsVon der «Fortschrittspartei Visp» über die «Demokratische Partei» zur FDP
DetailsVom «Jungen Visp» und dem «Kritischen Oberwallis» zur Sozialistischen Partei
DetailsDer Wunsch nach landwirtschaftlicher Bildung war in Visp am grössten
DetailsSekundarschule, Turnhalle, Spital: bedeutende Schritte in die Zukunft
Es waren noch keine 20 Jahre vergangen, seit die Lonzawerke in Visp ihre Zelte aufgeschlagen und den Betrieb aufgenommen hatten. Da gelangte der soeben neu gewählte Visper Gemeinderat unter der Leitung von Gemeindepräsident Lot Wyer zur Überzeugung, dass bezüglich Entwicklung des Dorfs nicht mehr von der Hand in den Mund gelebt werden durfte. Was einige Leute bereits während geraumer Zeit beschäftigt hatte, wurde nun unmittelbar nach Beginn der neuen Amtsperiode 1925–1928 Tatsache: Ein Entwicklungsplan wurde bei Fachleuten in Auftrag gegeben und zusammen mit diesen realisiert. Dieses sehr anspruchsvolle Unternehmen, das auch eine erste Bauordnung umfasste, darf wohl als die bis dahin grösste, Weitsicht und viel Mut erheischende Leistung der Visper Regierung betrachtet werden, wobei das Vorgehen angesichts der raschen Entwicklung von Industrie und Siedlung auch einer Notwendigkeit entsprach: Die Bautätigkeit am Ort hatte merklich zugenommen und ein wirtschaftlicher Aufschwung hatte stattgefunden, seit die Lonza in Visp produzierte. Aufgabe einer richtig verstandenen Ortsplanung sei sparsames Haushalten mit dem vorhandenen Boden und die Erhaltung und Förderung eines gesunden Lebens im Rahmen einer kleinen Gemeinschaft, betonten die Fachleute.
Das Potenzial der Arbeitsplätze, welche die Lonza zur Verfügung stellte, konnten die Einheimischen nicht optimal nutzen, denn ein schwerwiegendes Manko am Ort selbst verhinderte dies: Mit Ausnahme von ein paar wenigen Privilegierten, die sich den Besuch des Kollegiums in Brig und weiterführende Studien leisten konnten, fehlte es ganz einfach an der notwendigen Bildung der Werktätigen, um in den Industriewerken Anspruchsvolleres als Hilfsarbeiten auszuführen. Erst Ende der 20er-Jahre wurden in der Lonza vereinzelt Lehrlinge in den mechanischen Berufen angestellt – anfänglich zwei.
Für eine Sekundarschule, die Abhilfe geschaffen hätte, gab es im Wallis schon seit 1910 eine Rechtsgrundlage. Dennoch mussten fortschrittlich gesinnte Bürger während Jahrzehnten gegen Windmühlen kämpfen, bevor dieses Erfolg verheissende Bildungsangebot endlich eingeführt wurde. Die Mehrheit folgte nach wie vor Leuten, die kein Interesse an vermehrter Bildung des Volks bekundeten, und solchen, die das Heil für alle Zukunft in der Landwirtschaft sahen, welche Selbstversorgung ermöglichte. Noch 1931, als die Fortschrittlichen an der Urversammlung einen ersten konkreten Vorschlag für die Einführung der Sekundarschule einbrachten, wurde die Neuerung abqualifiziert: «Die Sekundarschule ist nicht für unsereiner. Diese Erfahrung nützt der Landwirtschaft nichts. Er ist dann zu gescheit zum Bauern.» Die Initianten liessen aber nicht locker. Steter Tropfen höhlt den Stein. Dies verfehlte seine Wirkung auch beim Gemeinderat nicht. Er unterbreitete nämlich der Urnenabstimmung von 1935 die Einführung einer Sekundarschule – der ersten im Oberwallis. Von den 388 Stimmenden sagten 296 oder 76,3 Prozent Ja. Dass sie auch gleich dem Bau einer Turnhalle zustimmten, zeigt, dass die Wende zum Fortschritt definitiv erfolgt war. Das war ein Fest wert, auch wenn man mit einem etwas mulmigen Gefühl zur Kenntnis nehmen musste, dass gleichzeitig die Sekundarschule Thalwil im Kanton Zürich bereits ihr 100-jähriges Bestehen feiern durfte. Derart gross war der Rückstand der Bildung im Wallis gegenüber der übrigen Schweiz geworden.
Daneben hatte sich im Schulwesen einiges getan: Kurz vor der Landwirtschaftlichen Schule (1920) konnte in Visp die erste Berufsschule des Oberwallis (1919) eröffnet werden. Für die jungen Frauen, die bis in die Sechzigerjahre von der Sekundarschule ausgeschlossen blieben, gab es ab 1924 die industriell-hauswirtschaftliche Fortbildungsschule, die «Haushaltungsschule», geführt von Ursulinen-Schwestern aus Brig.
1935 wurde die Turnhalle gebaut, 1937/38 der Schulhausplatz angelegt. Das Spital wurde eröffnet und entwickelte sich zum Bezirksspital mit Pflegeschule.
Trotz schweren Krisen in den Dreissigerjahren mit hoher Arbeitslosigkeit und während des Zweiten Weltkriegs wurden allmählich Strassen in die umliegenden Gemeinden angelegt.
Arbeitslosigkeit in den Krisenjahren beschäftigte die Urversammlung
DetailsDer leidige und lange Weg bis zur Einführung der Visper Sekundarschule
DetailsEine Visperin als Managerin an der Spitze von St. Ursula: Sr. Canisia
DetailsDie liberale «Oberwalliser Zeitung» erschien in Visp, später auch der «Walliser Bote»
DetailsNeues Rathaus und vergrösserte St. Martinskirche
Nach dem Krieg entschieden sich die Visper für einen politischen Neuanfang mit Führungswechsel: Der Schriftsteller Adolf Fux errang mit seinen Demokraten als erster und bisher auch einziger Oppositioneller die Mehrheit und übernahm das Präsidium der Gemeinde. Die abgewählte konservative Regierung mit Alex Mengis an der Spitze stattete eine Bilanz über die bisherige Gemeindearbeit ab und orientierte über den aktuellen Stand der Geschäfte: Die Gemeinde war nahezu schuldenfrei – ohne Absicht; zwar hatte es in den Jahren zuvor Bedürfnisse und Projekte gegeben, aber die erforderlichen Arbeitskräfte hatten gefehlt, ebenso das notwendige Baumaterial und schliesslich die Subventionen. Auf die neue Regierung warteten zwei der bedeutendsten Bauaufgaben, welche die Gemeinde je zu bewältigen hatte, das neue Rathaus und die Pfarrkirche. Beide Projekte waren bereits eingefädelt.
In den ersten Nachkriegsjahren herrschte in der Gemeinde keineswegs Aufbruchstimmung. Die Arbeitslosigkeit war 1948 noch beachtlich. Um ihr entgegenzuwirken, bot die Gemeinde beim Abbruch des Rathauses und bei Korrektionsarbeiten am linken Vispa-Damm Arbeit an. Wegen der Vergrösserung der Kirche musste das über 400-jährige bisherige Rathaus weichen. Weil aber dort noch Schulen untergebracht waren, musste man dafür vorgängig Ersatz finden. Zwischen 1953 und 1955 wurde die St. Martinskirche, wie sie heute noch dasteht, unter Einbezug der bisherigen Kirche erbaut und von 300 auf 900 Sitzplätze erweitert. Der Architekt war Ferdinand Pfammatter, ein Zürcher Kirchenbaumeister mit Walliser Wurzeln. Das neue Gemeindehaus entstand nordöstlich vom Standort des bisherigen; Architekten waren die Siderser Marco und Donat Burgener mit Visper Abstammung; sie nahmen 1953 auch die westliche Erweiterung des Spitals Sta. Maria in Angriff. Mit dem neuen Rathaus und der bedeutend vergrösserten Pfarrkirche erfuhr die Umgebung des Martiniplatzes in den 50er-Jahren merkliche Änderungen.
Die Bevölkerung nahm stetig zu, es herrschte Wohnungsnot trotz verstärktem Wohnungsbau. Die neuen Lonzahäuser in der Litterna wurden mit Wasser und Kanalisation versorgt. Noch 1951 regte an der Urversammlung jemand an, die Duschen in der Turnhalle nach einem gewissen Stundenplan der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Das Bad im Haushalt war noch keine Selbstverständlichkeit; 1960 waren im Wallis gemäss Volkszählung erst 55 Prozent der Wohnungen mit Bad oder Dusche versehen. Aber nach und nach hielt doch ein gewisser Komfort Einzug.
Man legte neue Strassen an und versah sie mit Namen. An zwei Standorten, in Visp und Brig, wurden auf Boden der Gemeinden Gewerbeschulhäuser gebaut, wobei die Gemeinden auch einen Teil der Baukosten bestritten.
Die Eröffnung von neuen Geschäften und das Angebot von Veranstaltungen zeugen davon, dass es einen gesteigerten Konsum gab; Migros eröffnete einen ihrer Selbstbedienungsläden und konkurrenzierte die bisherigen Lebensmittelgeschäfte. Es kam Freude an Freizeitaktivitäten auf, nicht zuletzt angeregt durch Mitarbeitende der Lonza, die nicht selten aus der Deutschschweiz ins Oberwallis gezogen waren und mithalfen, die erforderlichen Anlagen zu schaffen, damals mit viel Fronarbeit. Visp erhielt eine Kunsteisbahn (1956), wo sich die legendäre Visper Eishockeymannschaft bis zum Schweizermeister (1962) emporspielte, ein Schwimmbad (1958) und einen Sportplatz mit einer 400-Meter-Aschenrundbahn, der ersten im Wallis (1958).
Die Entwicklung im Verkehr, die Verknappung des Bodens, die bautechnischen Fortschritte, die gesundheits- und feuerpolizeilichen Vorschriften und andere sich aufdrängende Überlegungen veranlassten die Gemeinde Ende der 50er-Jahre, die Visper Bauordnung neu zu studieren und diese schliesslich anzupassen: Am 27. März 1960 verabschiedete die Visper Urversammlung nach 34 Jahren ein neues Baureglement.
Bevölkerungszunahme, Wohnungen, öffentliche Bauten, Strassen – Gemeinde war gefordert
DetailsGemeindepräsident Adolf Fux, auch ein bedeutender Oppositionspolitiker
DetailsNeue Strassennamen, ein utopisches Strassenprojekt und eine neue Brücke
DetailsEtwas mehr Komfort, Konsum und Vergnügen – Freizeiteinrichtungen, Sportanlagen
DetailsLonza stellte auf Erdölverarbeitung um, Karbid hatte ausgedient
1959 gelangte die Leitung der Lonza zur Überzeugung, dass sich das angestammte Fabrikationsprogramm mit Petrochemie rationeller und kostengünstiger herstellen liess, und fällte den Entscheid zugunsten einer Benzinspaltanlage am angrenzenden Standort Lalden. Lonza nahm diesen Paradigmenwechsel vor, um am Markt bestehen zu können. Bei der Verlagerung von der Kohle zum Erdöl und dessen Derivaten als Rohstoff-Grundlage handelte es sich um eine weltweite Entwicklung, die in den Produktionszentren der ausländischen Konkurrenz eingesetzt hatte. Lonza stellte ihre Produktion auf Erdölverarbeitung sowie auf Acetylen-Chemie um. 1961 startete sie mit dem Bau der neuen Produktionsstätte. Doch bei der Einführung harzte es: Die italienische Lieferfirma hatte einen unerprobten Prototyp ins Werk Visp geliefert, es wurden schwerwiegende Mängel und grobe Ingenieurfehler festgestellt und die angereisten Ingenieure und Techniker waren nicht in der Lage, das Ganze zum Laufen zu bringen. Eine Flamme über der Fabrik zeigte während Monaten an, dass der Prozess noch nicht zufriedenstellend und gewinnbringend zum Tragen gekommen war. So wurde ein Team aus werkseigenen Fachleuten, kompetenten Handwerkern und erfahrenen Hilfskräften auf die Beine gestellt. Die Leitung übernahm der gebürtige Visper Chemiker Dr. Raymond Perren. Diese hauseigene «Schicksalsgemeinschaft» räumte während vier Monaten intensiver Arbeit aus eigener Kraft alle Hindernisse aus dem Weg und verschaffte dem teuren «Petrochemie-Abenteuer» ein glückliches Ende: Es gelang der Equipe, einen reibungslosen Produktionsablauf der Leichtbenzin-Spaltanlage in Gang zu bringen. «Die Inbetriebnahme stellt eine technische Glanzleistung der Lonza-Techniker dar, die bis zur Regeltechnik auf sich selbst gestellt waren», schrieb die Schweizerische Handelszeitung 1966.
Mit diesem Erfolg ging auch die jahrzehntelange Phase zu Ende, während der für anspruchsvolle Posten Mitarbeiter von auswärts herbeigeholt werden mussten, während die meist ungelernten Walliser vorwiegend Hilfsarbeiten verrichteten. Jetzt waren auch Walliser, unter ihnen Visper, zu den qualifizierten Mitarbeitern aufgerückt, nachdem sie studiert und sich so das nötige Werkzeug geholt hatten.
Als die Petrochemie lief, hatte Karbid, das die Lonza seit 75 Jahren produzierte, bald ausgedient, nicht zuletzt, weil es energieintensiv war: 1964 wurde der Ofen in Gampel stillgelegt. In Visp fand der letzte Karbidabstich 1972 statt.
Neben dem Paradigmenwechsel in der Industrie gab es in Visp Anfang der Sechzigerjahre auch einen in der Politik: Die Christlichsozialen, die «Gelben», versetzten die Demokraten nach 16 Jahren in die Minderheit. Unter dem Präsidium des jungen Juristen Hans Wyer lenkten sie nun die Geschicke der Gemeinde. Wyer sollte Visp 16 Jahre vorstehen und darüber hinaus auch kantonal und eidgenössisch eine beispiellose Politkarriere hinlegen, die den Nationalrat 1976 zum höchsten Schweizer, zum Präsidenten der Bundesversammlung machte. Während elf Jahren präsidierte er die CVP Schweiz. In seiner 16-jährigen Amtszeit als Walliser Staatsrat hatte Hans Wyer zunächst die Finanzen, später die Energie unter sich. Sein Vater Lot und sein Grossvater Pierre-Marie hatten den Visper Gemeinderat bereits früher präsidiert.
Einen dritten, längst überfälligen Umbruch gab es in Visp 1961 im Bildungswesen, als endlich auch die Mädchen zur Sekundarschule zugelassen wurden – ein Vierteljahrhundert nach den Knaben, zehn Jahre vor Einführung des Frauenstimmrechts. Nachdem die Gemeinde dazu die Initiative ergriffen hatte, gab der Departementschef Staatsrat Marcel Gross grünes Licht: «Die Mädchen-Sekundarschule wird die erste im Oberwallis sein und als solche bestimmt in weiten Kreisen grossem Interesse begegnen.» 26 Schülerinnen bestanden die Aufnahmeprüfung; dasselbe gelang gleichzeitig nur gerade neun Knaben aus Visp!
Chemiewerk Teranol in Lalden, die wenig bekannte Grösse im Oberwallis
DetailsEyholz, nach 700 Jahren Autonomie 50 Jahre bei Visp
Eyholz dürfte zwischen 1280 und 1299 gegründet worden sein. Fast 700 Jahre blieb es sodann eine selbstständige Gemeinde. Es ist nicht klar, bis wann das Dorf zum Zenden Naters gehörte und wann es zum Zenden Visp stiess. Doch kann angenommen werden, dass es vor 1300 dem Meiertum Naters angehörte, um sich dann 1335 durch Visp vertreten zu lassen. Nachdem das Dorf zunächst Teil der Pfarrei Naters gewesen sein dürfte, blieb es danach kirchlich stets zur Pfarrei Visp gehörig. Sämtliche Eyholzer und Eyholzerinnen fanden deshalb auf dem Visper Friedhof die letzte Ruhe. An allen Sonn- und Feiertagen, die es früher zuhauf gab, trotteten Männer, Frauen und Kinder unabhängig von der Witterung nach Visp zum Gottesdienst. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein unternahmen die Eyholzer Schulklassen an den freien Nachmittagen den gleichen Fussmarsch, um sich in Visp eine Stunde Religionsunterricht – «Chrischtulehr» – zu Gemüte zu führen.
Der Bau von Wohnhäusern hielt sich lange in bescheidenem Rahmen und beschränkte sich auf den milden Hang im Süden, in einer schönen Lage, wo jedoch im Winter während drei Monaten der Sonnenschein ausbleibt. Die Eyholzer waren bescheidene Kleinbauern, die oft mit dem Hochwasser des Rottens zu kämpfen hatten. Als die Lonza unweit des Gemeindegebiets ihre Chemiewerke erstellte, konnten dort auch Eyholzer ein besseres Auskommen finden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bauten ein paar Gewerbler in der Ebene eine Existenz auf. Erst viel später entwickelte sich Eyholz zu einem bedeutenden Einkaufszentrum für das Oberwallis. Seine geografisch zentrale Lage im deutschsprachigen Kantonsteil mit den idealen Möglichkeiten für Verkaufsgeschäfte unmittelbar an der Kantonsstrasse zog im vergangenen Vierteljahrhundert Grossflächengeschäfte wie ein Magnet an. Lebensmittel, Haushalt, Autos, Möbel usw. gibt es hier inzwischen in reicher Auswahl für fast alle Ansprüche. PAM, die Unterwalliser Lebensmittelkette, die inzwischen von der Bildfläche verschwunden ist, erkannte als eine der ersten die günstige Lage. 2019 kam als eine der letzten die bis dahin in Glis ansässige Kette für landwirtschaftlichen Bedarf, die «Landi» dazu; sie richtete gegenüber dem grossen Eyholz Center auf einer Fläche von zwei Fussballterrains ein Geschäft ein.
Die Ritikapelle aus dem 17. Jahrhundert, die früher ein beliebter Pilgerort war – die Kapelle der «Seligsten Jungfrau Maria in der Riti» – ist seit Jahrhunderten das sehenswerte Wahrzeichen des Dorfs. Wo sie steht, wurden frühere Baustufen aus dem 13./14. Jahrhundert und aus der Mitte des 15. Jahrhunderts identifiziert.
Anfangs der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts begannen in der Talebene Diskussionen um mögliche Fusionen die Stammtische zu dominieren. Der Eyholzer Gemeinderat nahm die Idee sofort auf. Einstimmig unterbreitete er dem benachbarten Visp das Gesuch um Zusammenschluss der beiden Gemeinden. Der Beschluss wurde wohl nicht leichten Herzens gefasst, aber der Not gehorchend und mit einem realistischen Blick in die Zukunft. Die Behörden sahen in einem Zusammenschluss die Möglichkeit, den gemeinsamen geografischen und wirtschaftlichen Raum, den die beiden Gemeinden bildeten, in gemeinsamer Planung auszurüsten und mit Infrastruktur zu versehen.
Am 25. Februar 1971 beschlossen die Urversammlungen von Eyholz und Visp, sich auf Ende der Legislaturperiode, das heisst auf 31. Dezember 1972, zusammenzuschliessen. Seit 1973, also seit mehr als einem halben Jahrhundert, ist Eyholz ein wichtiger Teil des aufstrebenden Industriezentrums – zum Vorteil der beiden Partner. Kulturell ist Eyholz nach wie vor eine lebendige Dorfschaft.
Familien, Burgerhaus und Immobilienverkäufe im 16., 17. und 18. Jahrhundert
DetailsKultur- und Kongresszentrum «La Poste» auch national beachtet
Mit dem Bau des stattlichen Kultur- und Kongresszentrums La Poste schuf sich die Gemeinde Visp Anfang der Neunzigerjahre eine Einrichtung, die nicht nur das kulturelle Leben bereicherte, Visp zu einem geschätzten Tagungsort machte und der Bevölkerung für verschiedenste Anlässe diente, sondern auch ein Gebäude, mit dem sie architektonisch und städtebaulich Neues wagte. Am Standort des La Poste hatte hundert Jahre vorher das beste Hotel von Visp gestanden. In den Dreissigerjahren versah der damalige Besitzer das Haus mit einem grossen Saal, mit dem er sich zwar finanziell übernahm, aber einen Ort hinterliess, den die Bevölkerung vielfältig nutzte. Zeitweise gehörte das Gebäude der Lonza, bevor diese mit der Gemeinde Boden tauschte; so konnte sich Visp den geschichtsträchtigen Standort eines Raums für kulturelle und gesellschaftliche Anlässe sichern.
Die neue Litternahalle, die man über der früheren legendären Freiluft-Eisbahn errichtete, setzte ab 1979 mit Gewerbeausstellungen, Messen und anderen Veranstaltungen wirtschaftliche Impulse; der Sommerbetrieb war auf die kurze Zeit beschränkt, in der keine Sportler auf dem Eis trainierten oder spielten.
Das lokale Gewerbe konnte sich dank langjährigen Baurechten auf Boden der Burgerschaft entwickeln; auf 60 000 Quadratmetern im Gebiet Pomona entstand 1991 eine gut erschlossene Industrie- und Gewerbezone. Auf diesem Weg gelang es, in Visp zahlreiche Arbeitsplätze zu schaffen.
Das Gebiet «Visp West» war anfangs der 90er-Jahre das einzige grössere und in sich zusammenhängende Gebiet, in dem eine wesentliche Ausdehnung der bestehenden Visper Wohnsiedlung überhaupt noch möglich war. Da die Gefahr bestand, dass hier unkontrolliertes Bauen hätte einsetzen können und Fehler gemacht würden, die nachträglich nicht mehr hätten korrigiert werden können, nahm die Gemeinde die Planung rechtzeitig und sorgfältig in Angriff.
Umweltfragen und ökologische Anliegen rückten in den Vordergrund: 1968 hatte die Gemeinde Visp entscheidende Vorarbeit zum Bau einer Kehrichtverbrennungsanlage für das ganze Oberwallis in Gamsen geleistet. Gemeinsam mit der Lonza nahm sie die Abwasserreinigungsanlage in Angriff, sodass 1977 kommunale und industrielle Partner ihre Abwässer in das 30 Millionen Franken teure Werk einleiten konnten. Ein Grobkonzept erkundete 1985 die Möglichkeiten einer Fernwärmeversorgung der Gemeinde Visp einschliesslich der Nutzung der Industriewärme der Lonza. Der neue Forstbetrieb der Burgerschaften Visp und Umgebung musste gegen das ausgeprägte Waldsterben angehen, das im Schutzwald am steilen Hang hinter Visp festgestellt worden war. Die Bedeutung von Luftschadstoffen, die lange als hauptsächlicher Faktor des Waldsterbens galten, blieb weiterhin unklar; ein ursächlicher Zusammenhang mit Emissionen der Lonza liess sich nicht herstellen.
Die Lonza hatte unter verschiedenen Unsicherheiten zu leiden: Nach seinem 75-jährigen Jubiläum wurde das Unternehmen von der Alusuisse übernommen und war fortan deren Tochtergesellschaft. Nach dem 100-jährigen Jubiläum war Lonza dann wieder selbstständig. Damals veräusserte sie die Stromproduktion, was sich später als verhängnisvoll erweisen sollte. Lonza wandte sich der Feinchemie und später der Biotechnologie zu. Visper stiegen allmählich auch in die Top-Kaderpositionen der Firma auf.
Während der Umwelt mehr Sorge getragen wurde, fand in Visp auch das kulturelle Erbe vermehrt Aufmerksamkeit: 1972 bis 1975 wurde die untere Kirche auf dem Hügel der alten Burgschaft unter Aufsicht der eidgenössischen und kantonalen Denkmalpflege restauriert. Dem neuen Verein «Iischers Visp» gelang es unter anderem, Private bei der Restaurierung der früheren Suste Pflanzetta zu unterstützen und einen Pulverturm zu erhalten.
Die Bevölkerung von Visp sollte es schöner haben, sich in einer autofreien Burgschaft aufhalten und dort einkaufen können; die Inhaberinnen und Inhaber der angrenzenden Geschäfte ergriffen die Initiative und realisierten ihr Vorhaben in Kürze. Die Gemeinde schuf einen Erholungsraum jenseits der Vispa, wo sich die Einwohnerinnen und Einwohner in der Natur aufhalten konnten. In Visp entstanden Institutionen für Betagte und Menschen mit Beeinträchtigungen: 1978 bezogen die ersten Bewohnerinnen und Bewohner das neue Altersheim nördlich der Eisenbahn. In den Kleegärten eröffnete 1996 das Wohnheim «Fux campagna» für schwer körperlich und mehrfach Behinderte des Oberwallis. Im Bildungswesen gab es eine zukunftsträchtige Entwicklung: Visp wurde Standort einer höheren Bildungsanstalt, der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule Oberwallis (HWV), die sich gut entwickelte und später zur Fachhochschule mutierte – die der Kanton der Gemeinde Visp nach einem Jahrzehnt jedoch wieder nahm.
Regionale Abwasserreinigungsanlage Visp, ein Gemeinschaftsbetrieb von Lonza und Gemeinden
DetailsVon der Abfalldeponie über den Kessel mit Deckel zur Kehrichtsackgebühr
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DetailsDie Autobahn in Visp: Planung und Bau dauerten ein halbes Jahrhundert
Der Bau des Nationalstrassennetzes in der Schweiz setzte 1960 ein. Logischerweise hatten dabei die Verbindungen zwischen den grösseren Städten, die Linie Genf–St.Gallen und andere, Vorrang. Denn dort gab es ja das mit Abstand höchste Verkehrsaufkommen.
Dass dann die Autobahn im Wallis zuerst im Unterwallis gebaut wurde, wo im Westen nahtlos an das bereits bestehende nationale Netz angeknüpft werden konnte, war sicher berechtigt und unbestritten.
Parallel dazu konnte man sich mit den ersten Autobahn-Planungen im Oberwallis befassen. Damit aber begann eine unsägliche Leidensgeschichte mit sehr viel Ärger und bedeutendem materiellem Schaden für die Oberwalliser Wirtschaft.
Die im höchsten Grad uneinigen Oberwalliser Politiker und Ingenieure (letztere profitierten als einzige) erlaubten es dem Kanton, ungestört die Autobahn der Unterwalliser – ohne deren Dazutun – bis in den Pfynwald fertig auszubauen, bevor auf Oberwalliser Boden überhaupt ein einziger Spatenstich erfolgen konnte. Bald wird es 50 Jahre her sein.
Besonders die Linienführung im Raum Visp war von Anfang an umstritten. Gemäss Aussagen der zuständigen kantonalen Stellen von 1999 wurden bei keinem Bau eines Autobahnteilstücks in der Schweiz auch nur annähernd so viele Varianten erarbeitet und Genehmigungsverfahren durchgeführt. Wiederholt wurden verschiedene Varianten im Norden des Rottens geprüft, genehmigt und wieder fallen gelassen.
Bald teilte sich die Volksmeinung zur Linienführung in zwei Lager. Den im Kanton und vor allem im Oberwallis herrschenden C-Parteien, die auch in der Regierung das Sagen hatten und das Heil dieser weitgehend vom Bund berappten Strasse nur im Norden des Rottens sahen, standen die bedeutend kleineren Oppositionsparteien, vor allem SP, aber auch FDP und verschiedene Umweltorganisationen gegenüber.
Brenzlig wurde es, als die Autobahn plötzlich mitten durch die Industriewerke der Lonza geführt werden sollte, dies im klaren Wissen um die Chemiekatastrophe von Schweizerhalle, die sich kurz zuvor ereignet hatte. Man kam davon ab und versuchte es mit einem Tunnel unter dem Werksareal. Auch dazu verweigerte die Lonza ihre Zustimmung. Sie befürchtete eine Häufung von Chemieunfällen, was sie nicht verantworten konnte; zudem war die Frage der Haftung ungelöst.
Was die Opposition schon lange gefordert hatte, musste nun auch von offizieller Seite ins Auge gefasst werden: das Studium von Möglichkeiten im Süden. Der Norden wurde trotzdem noch nicht aufgegeben; diese Variante hätte im Osten mitten durch die Dorfschaft Eyholz geführt. Allein die 700 Unterschriften der dortigen Bewohner brachten die Nordvarianten endgültig ausser Traktanden.
Kurz vor der Jahrtausendwende sprachen sich alle zuständigen Stellen einstimmig für die Linienführung im Süden aus, auch die 25 Mitglieder des Comité de pilotage unter der Leitung des Direktors des Bundesamts für Strassen. Was viele nicht mehr geglaubt hatten, wurde nun doch endlich Realität.
Seither – das ist nun auch schon wieder mehr als ein Vierteljahrhundert her – wird gezielt geplant und gebaut, nicht ohne weitere grössere Hindernisse und Unterbrüche. Obwohl der Fels von bedeutend besserer Qualität war, als der Experte Ingenieur Lombardi prophezeit hatte, zog sich der Bau der vier Tunnel in die Länge. Immer wieder wurde die Planung auf den stets neusten Stand der Technik gebracht. Dabei stand die Sicherheit, die immer wichtiger wurde, im Vordergrund. Auch die Anfechtung von Vergaben hatte Zeitverluste zur Folge, die ins Gewicht fielen.
Einmal hiess es, die A9 im Raum Visp werde im Jahr 2020 fertiggestellt sein, dann wurde das Jahr 2026 in Aussicht gestellt. Die Kosten sind inzwischen ins Unermessliche gestiegen. Die mehr als zwei Milliarden Franken werden zu 96 Prozent vom Bund berappt. Dass die Bundesstellen trotzdem die Geduld aufbrachten und an der Südumfahrung festhielten, muss diesen hoch angerechnet werden.
Visp erhält zwischen Schwarzem Graben und Grosshüs ob Eyholz direkte Anschlüsse an die Autobahn, wird davon aber als Siedlung in keiner Weise belastet sein. Das Band zwischen den beiden Gebirgsketten, das hier besonders schmal ist, kann sich so unbeeinträchtigt weiterentwickeln, was für die Zukunft von Visp und seiner näheren Umgebung von grosser Bedeutung sein dürfte.
25 Jahre Autobahn-Planung und Variantenstreit – kein Ruhmesblatt für Visp!
DetailsBisher verlachte Südvariante der Umfahrung Visp plötzlich ernst genommen
DetailsHistorischer Moment für Visp: 1998 wurde nach jahrelanger Blockade gebaut
DetailsBahnhof und Lonza katapultierten Visp ins dritte Jahrtausend
Ähnlich wie der Beginn des 20. Jahrhunderts begann auch das dritte Jahrtausend für Visp mit einem einmaligen Paukenschlag. Dieser riss die Gemeinde aus dem lethargischen Zustand der vorangegangenen Jahrzehnte. Dank dem NEAT-Basistunnel durch den Lötschberg halbierte sich die Reisezeit von Visp nach Bern 2007 auf weniger als eine Stunde. Visp wurde zum wichtigsten Bahnhof im Kanton und zu einem der bedeutendsten Umsteigebahnhöfe der Schweiz. Reisende aus Genf zum Beispiel erreichten Zermatt plötzlich um bis zu 80 Minuten früher, weil sie in Visp statt in Brig umstiegen. Sozusagen über Nacht lag Visp jetzt in Pendlerdistanz zu Bern, Thun und Spiez.
Nach langer Pause löste dies einen regelrechten Bauboom aus. Innert wenigen Jahren nahm die Bevölkerungszahl, die sich in den 20 Jahren zuvor bei 6 500 Einwohnern eingependelt hatte, um 1 500 Personen zu.
Zehn Jahre später sollte diese für Visp und das ganze Oberwallis erfreuliche Entwicklung noch eine ungeahnte Steigerung erfahren. Den Grund dazu lieferte die Lonza AG, die seit 1907 zum grössten und bedeutendsten Arbeit- und Brotgeber für die Oberwalliser Bevölkerung geworden war.
Inzwischen hatte das Unternehmen seine Tätigkeit weltweit ausgedehnt und beschäftigte an 40 Produktions- und Forschungsstätten fast 10 000 Mitarbeitende. 2017 wurde Visp Standort einer massiven industriellen Produktion der Lonza auf mehr als 100 000 Quadratmetern in fünf mächtigen Gebäuden auf dem nordwestlichsten Teil des Visper Lonza-Territoriums. Darin stellt Lonza Produktionskapazitäten zur Verfügung, damit Grosskonzerne die Zeit zwischen der Entwicklung eines Medikaments und seiner Einführung auf dem Markt verkürzen können. Dank dieser Grossinvestition namens «Ibex Solutions» – ibex bedeutet Steinbock – im Werk Visp sollten zum 125-jährigen Bestehen des Unternehmens ein Umsatz von 7,5 Milliarden Franken und ein Betriebsgewinn von 30 Prozent resultieren. Das war wohl der mächtigste Schritt nach vorne, den die Lonza je getan hatte: Sie wurde zum weltgrössten Auftragsfertiger der Pharmaindustrie. Warum hatte sie dafür gerade Visp ausgewählt? Am Oberwalliser Standort entstanden mit dieser Erweiterung nämlich zusätzlich mehrere Hundert Arbeitsplätze – für ein Projekt, das nicht nur für das Wallis, sondern für die gesamte Pharmaindustrie von grösster Bedeutung war. Lonza gab die Antwort spontan: «Wir haben hier gut ausgebildete Mitarbeitende auf allen Ebenen.» Auch die Werksinfrastruktur sei ausgezeichnet und die Energieversorgung gut. Die Summe der Vorteile sprach eindeutig für Visp.
Eine Zukunft mit derart vielversprechenden Perspektiven erlaubte es den Visper Stimmberechtigten auch, zu einer neuen Eissport- und Eventhalle im Wert von rund 40 Millionen Franken Ja zu sagen; die Einweihung der «Lonza Arena» erfolgte 2019.
Bei der dritten Rottenkorrektion wurde Visp, wohl vor allem der Lonzawerke wegen, absolut prioritär behandelt. 2019 stellte der Kanton mit Genugtuung fest, dass Visp jetzt auch vor Jahrhundert-Hochwassern geschützt ist.
Wenn in absehbarer Zeit auch die Tunnelumfahrung der Autobahn A9 im Süden von Visp vervollständigt und eröffnet sein wird, kann von einem dritten Jahrhundert-Ereignis für die Gemeinde gesprochen werden; neben den beiden Flüssen Vispa und Rotten hatte auch der nicht abbrechende Verkehrsfluss durch die Siedlung die Bevölkerung während Jahrzehnten belastet.